17. Februar 2017 - aktueller Autor - Theodor Pelster



 


Theodor Pelster, 1937 in Krefeld geboren und dort aufgewachsen, studierte Germanistik, Geschichte, Philosophie und Sport in Bonn und wurde mit einer Arbeit über den „Stil der politischen Rede" promoviert.. Seit 1965 unterrichtete er an einem Krefelder Gymnasium, wurde Fachleiter für Deutsch am Krefelder Studienseminar und Referent für Lehrerfortbildungsveranstaltungen in den alten und neuen Bundesländern. Er war Autor und Herausgeber mehrerer Unterrichtswerke. Als freier Mitarbeiter der Volkshochschule Krefeld fuhrt er Literatur-Seminare und Autorenlesungen durch. Er ist Mitbegründer des seit 1992 jährlich zu vergebenen Niederrheinischen Literaturpreises. Seit 1965 ist er verheiratet, Vater dreier Kinder und inzwischen auch Großvater.

 

Ausschnitt aus 'Nachgeholte Begegnungen'

Liebster Vatter,

es besteht nicht die geringste Aussicht, dass Du die-sen Brief erhalten und lesen wirst; denn Du bist seit mehr als zwanzig Jahren tot. Trotzdem bist Du mir ständig gegenwärtig. Jetzt, da ich die Siebziger-grenze überschritten habe, mehr als jemals. Erst gestern, als ich aus gegebenem Anlass die Unterlagen der Friedhofsverwaltung zur Verlängerung der Nutzungsrechte unserer Familiengrabstelle suchte, stieß ich in unseren Familienunterlagen wieder einmal auf Deinen Entlassungsschein aus dem Kriegsgefangenenlager in Bad Aibling, ausgestellt am 20. Juni 1945, englisch verfasst, unterschrieben von einem Medi-cal Officer und einem Discharging Officer. Alles brach wieder auf.
Dein Entlassungsschein hat die Nummer 117415. Mitgefangene dort in Bad Aibling am Fuße des Wilden Kaisers waren, wie man heute weiß, Günter Grass und Joseph Ratzinger, die damals, bildlich gesprochen, wie Du am Boden lagen, tatsächlich wohl unter freiem Himmel auf einer Zeltbahn kam-pierten und die wie Du von der Zukunft nicht viel erwarten durften. Du zähltest damals als Vierzig-jähriger zu den älteren Jahrgängen und wurdest als Familienvater früher entlassen als die Achtzehnjäh-rigen, die heute weltbekannt sind. Du standst, sta-tistisch gesehen, in der Mitte des Lebens, tatsäch-lich aber an einem absoluten Tiefpunkt.
Ich habe in den Unterlagen weiter gekramt, habe mich in Dein Soldbuch vertieft, habe Deine Zeug-nisse und Urkunden aus der Vorkriegszeit neu ge-ordnet und habe dann zwischen den Papieren einen Spickzettel gefunden, mit dem Du Dich wahrschein¬lich auf ein Gespräch bei der Entnazifizierungsbehörde vorbereitet hast. Ein schmaler Zettel, handgeschrieben. Aussagekräftiger als alle Urkunden.
Es ging damals um Deine Existenz, aber auch um unsere. Als städtischer Beamter warst Du, wie ich inzwischen weiß, 1937 in die Partei der Nationalso-zialisten eingetreten, warst 1939 zur Wehrmacht eingezogen worden, warst als Soldat in Frankreich, Russland und Polen gewesen und solltest Dich jetzt rechtfertigen. Es sah nicht gut aus. Ich erinnere mich deutlich an jenen Herbst 1945, als wir froh waren, ein paar Pflaumen und Äpfel im Garten ernten zu können, und als wir auf den abgeernteten Äckern liegen gebliebene Kartoffeln zusammensammelten. Was sich im Hintergrund abspielte, wusste ich da-mals noch nicht.
Im Traum laufen heute ab und zu noch immer Stati-onen meiner Kindheit ab, in denen Du die Hauptrolle spielst. Der Film, den ich oft durchlebe, beginnt in der Vorkriegszeit, als wir auf dem Teppich im Wohnzimmer liegen und mit der kleinen aufziehbaren Eisenbahn spielen. Augenblicke später bist Du plötzlich Soldat und wir, Mama und ich, besuchen Dich an einem Kasernentor. Dann spielen wir noch einmal in Deinem Heimaturlaub unter dem Weihnachtsbaum mit Rennautos. Schließlich verdüstert sich alles. Du holst uns aus unserm Haus, wir fahren nachts mit dem Zug und halten vor einer brennenden Stadt auf freiem Feld. Dann sitzen wir, Mama und ich, in einem kleinen Zimmerchen in Esslingen, frieren und warten auf Post von Dir und von zu Hause. Nächste Sequenz: Einmarsch der amerikanischen Truppen. Kein Lebenszeichen von Dir, keine Nachricht aus Krefeld. Mama weint fast durchge-hend und liest mir ab und zu aus ‚Bechsteins Mär-chen’ vor, dem einzigen Buch, das wir von zu Hause mitgenommen hatten. Dann fahren wir nach Göppingen. Immer wieder fahren wir nach Göppingen.
Auf der Rückseite Deines Entlassungsscheins ist eingetragen, dass man Dich mit einer Lebensmittel-karte und einer Brot-Zulage versorgt habe und dass Du Deine Familie in Göppingen antreffen wollest. Das war gelogen. Eine Notlüge. Du hattest erfahren, dass in Esslingen französische Truppen das Sagen hatten und dass diese Franzosen die von Amerika-nern ausgestellten Entlassungsscheine zerrissen und die erneut Gefangenen zu Wiederaufarbeiten nach Frankreich abtransportierten. Göppingen lag in der gesicherten amerikanischen Zone. Dort also sahen wir uns wieder; dort endete für uns der Krieg; dort begann für uns die Nachkriegszeit.
Ich kann mir durchaus vorstellen, wie Du im Juni 1945 in abgetragener Wehrmachtsuniform ohne Ho-heitszeichen aus dem Lager gewankt bist, die Feld-flasche an der einen Seite der Uniformkoppel, den blauen Brotbeutel an der anderen, eine Zeltbahn unter dem Arm. Wie Du nach Göppingen gekommen bist, kann ich mir dagegen nicht vorstel-len. Es fuhren damals keine Busse, keine Eisenbahnen. Niemand hatte ein Auto, einige wenige ein Fahrrad.   
Du hast weder von Deiner Gefangennahme noch von Deiner Entlassung jemals etwas erzählt. Du hast Dich ausgeschwiegen. Die Feldflasche, der Brotbeutel und die Zeltbahn sind uns später gut ausgekommen, als wir gemeinsam auf Fahrt gingen. Damals, im Juni 1945, als ihr euch zu mehreren auf den Weg machtet und euch von Ort zu Ort durch die bayerische und die schwäbische Landschaft schlugt, warst Du einundvierzig Jahre alt, ich acht.
Es lagen, was Du natürlich nicht wusstest, noch zweiundvierzig Lebensjahre vor Dir – unsere ge-meinsame Zeit. Diese ganze Zeit, nehme ich mehr und mehr an, war für Dich und vielleicht auch für mich bestimmt durch das, was in den paar Wochen geschah, als der Krieg endete und die Nachkriegs-zeit begann. Man nannte das, was sich damals er-eignete, den ‚Zusammenbruch’. Später hieß der Zeitabschnitt ‚Stunde Null’. Am Ende nannte man den 8. Mai, den Tag, an dem das Deutsche Reich kapitulierte, den ‚Tag der Befreiung’. Unterschiedli-che Deutungsversuche. ‚Befreit’ warst Du damals noch lange nicht. Gut, Du wurdest früh aus der Ge-fangenschaft entlassen. Aber was heißt das schon?
Wenn ich zurückblicke und zu verstehen suche, was diese Folge von umwerfenden Ereignissen des Jahres 1945 für uns, also für Dich, aber auch für Deine Frau und für mich bedeutete, habe ich immer wieder Göppingen vor Augen. Dort haben wir uns wiedergesehen, aber – so möchte ich heute sagen – nicht wiedererkannt. Du saßest in jenem schmudde-ligen Hotelzimmerchen in grauer Wehrmachtsunterwäsche auf dem Bett, ungekämmt und unrasiert, bleich und dünn. Du hattest Dich wohl gerade auf-gerichtet, als Du jemanden die Treppe hochkom-men hörtest. Dass wir das waren, Mama und ich, konntest Du nicht ahnen, da es keine Möglichkeit gegeben hatte, uns anzukündigen.
Der Anblick damals hat sich bei mir eingeprägt; von diesem Anblick habe ich mich nie ganz erholt. Ich wollte damals den Vater wiederhaben, den ich kannte, der mit mir gespielt hatte und zu dem ich aufsehen konnte. Du aber warst geschlagen und musstest ohnmächtig hinnehmen, was mit Dir ge-schah und was man mit Dir machte. Du littst an Deinen Demütigungen, ich litt an meinen Enttäu-schungen. Wir hätten darüber sprechen sollen – nicht sofort, sondern später, als wir anfingen, unse-re Entfremdung zu begreifen und vielleicht auch zu verstehen. Doch wir kamen nicht dazu. Deshalb dieser späte Brief.