18.09.2021 - aktuelle Autorin - Jessica Heister

Das Haus Europa

Die europäische Union ist ein Mehrfamilienhaus. In diesem Haus wohnen derzeit 28 Familien. Ich wohne im Dachgeschoss, in Deutschland. Oft gibt es Streit, denn in jeder Familie gibt es mindestens eine Meinung, und jede Familie denkt, dass ihre die beste ist, sodass sie diese mit aller Macht verteidigt, wie eine Löwenmutter ihr Junges. Jede Person möchte für ihre Familie nur das Beste. Außerdem gibt es auch oft Probleme in der Kommunikation, weil jede Familie eine andere Sprache spricht. Auf ein freundliches „Hola“ folgt nur ein „Hä? Waas?”.

Deshalb will England jetzt sein eigenes Ding durchziehen und hat den Kontakt zu uns, den anderen Hausbewohnern, abgebrochen. Wenn Eng-land jetzt das Haus verlässt, um einkaufen zu gehen, geht Frankreich an ihnen vorbei, ohne ein Wort mit ihnen zu wechseln. Weil Polen jetzt so wütend darüber ist, nehmen sie keine Rücksicht mehr auf England und poltern auch mitten in der Nacht über deren Kinderzimmer. Zum Som-merfest wird England auch nicht mehr eingeladen und schaut während-dessen einsam aus dem Fenster. „Da liegt doch wirklich Italien in meinem Gartenstuhl!”, fährt es (England) aus seiner Haut. Es wird so wütend, dass es direkt in den Garten stapft und Italien direkt zur Rede stellt. Nun bricht ein riesiger Streit zwischen den Familien aus. Österreich hat den geliehenen Rasenmäher noch nicht an Tschechien zurückgegeben. Portugal hat doch tatsächlich unseren Mixer kaputt gemacht. Kann man das glauben? Erst nach monatelangem Streit vertragen sich die Familien unseres Hauses wieder. Na ja, wir vereinbaren einen Waffenstillstand.

Wir lassen die Bewohnerversammlung wiederaufleben und treffen uns jetzt einmal in der Woche. Dabei freunden wir uns langsam miteinander an. Jetzt spielen auch die Kinder von Schweden und Spanien wieder mit-einander. Wir reden immer mehr über unsere Gemeinsamkeiten und wir stellen fest, dass wir ein ganz schön cooler Haufen sind. „Bei uns gibt es das beste Essen der Stadt!”, tönt Frankreich. „Und erst unser Haus, das ist das schönste der Stadt!”, merkt Italien an. Das sorgt dafür, dass die anderen Stadtbewohner uns Europäer echt nervig finden. „Mit denen macht es nicht mal Spaß, Geschäfte zu machen!”, meckert China. Ich meine, denken die echt, die wären besser als wir?
Uns ist mit der Zeit immer bewusster geworden, dass unser Zusammenschluss echt klasse ist. Deshalb haben wir beschlossen, uns von den ande-ren Stadtbewohnern abzugrenzen. „Wir sollten die Hecke höher stehen lassen, sodass uns nicht alle in den Garten schauen können!”, beschließt die Bewohnerversammlung einstimmig. „Außerdem … was ist, wenn je-mand das Gartentor offen stehen lässt?”, merkt Polen an. „Sie könnten unseren Rasen betreten!”, fürchtet England. „Sie könnten unseren Nudelvorrat aus dem Keller stehlen!”, vermutet Italien. „Unsere Autos wären nicht mehr sicher!”, betonen wir panisch.

Einige Wochen später stolpert eine Nachbarin vor unserem Grundstück. Alle Familien stehen am Fenster und überlegen, was sie nun tun sollen. „Was ist, wenn sie mich angreift?” – „Sie könnte gefährlich sein!” – „Was ist, wenn sie dann das Haus renovieren will?” Die Stimmen unserer Fami-lien klingen doch recht einstimmig. Also beschließen wir alle, der Dame nicht aufzuhelfen. Wir ziehen die Vorhänge zu. Doch ich und auch noch ein paar andere schielen doch noch durch einen kleinen Spalt nach drau-ßen. Die Frau auf der Straße liegt dort eine ganze Weile. Sie blutet. Sie ruft nach Hilfe, doch scheinbar nimmt sie keiner wahr. Auf der ganzen Straße ist kein anderer Mensch zu sehen. Und aus unserem Haus tritt auch keiner heraus. Sie liegt dort einige Stunden. Und irgendwann hat sie nicht mehr nach Hilfe gerufen. Die Frau ist gestorben. Und ich? Ich habe dabei zugesehen.

 

 

Biografisches – Ich bin mehr

Wer bin ich? Diese Frage begleitet mich. Immer. Solange ich denken kann. Eigentlich sind es mehrere Fragen. Ist es richtig, was ich getan ha-be? Vermutlich nicht. Diese Nachricht … hätte ich sie anders formulieren sollen? JA! Welche Konsequenzen wird sie haben? Hass? Verbannung? Apokalypse? – Vermutlich. Aber nein, es folgt nur ein „Okay“. Upsi, schon wieder selbst unnötigen Stress gemacht.
Das könnte ich sein. Ein großes Bündel Stress. „Das muss noch gemacht werden. Und dies. Und das.“ Wann ich es mache? NIE. Jedenfalls nicht, solange die Deadline mich nicht in die Enge treibt. Also muss ich doch endlos entspannt sein? Nein. Dann folgt mehr Stress. Blöd. Aber trotz-dem laufen die Dinge, die To-do-Liste schrumpft. Es bleibt das Gefühl.

Aber das kann doch nicht alles sein! Es heißt: „Umgib dich mit Dingen, die du liebst.“ Das tu’ ich. Familie, Freunde, Tiere. Ja, das liebe ich. Politi-sche Arbeit, der Einsatz für Veränderungen und der Kampf für das Gute. Das „Gute“ … Ja, damit umgebe ich mich gern. Dinge, die einen positiven Einfluss auf mich haben. Dinge, die gute Laune bereiten, mich inspirieren oder mich meine Meinungen kritisch hinterfragen lassen.
Also wer bin ich denn jetzt? Ich bin genauso introvertiert wie extrover-tiert. Ich bin träge und energiegeladen, unendlich glücklich und unfassbar traurig, laut und leise, suchend und angekommen, schüchtern und offen, ängstlich und mutig …
Früher habe ich mir vorgenommen, die Erwartungen anderer nicht zu er-füllen. Ich wollte es ihnen zeigen, wollte nichts anderes, als ihre Vorurteile überwinden und mehr aus mir zu machen. Aber was ist mehr? Beruflicher Erfolg? Dann vielleicht eher nicht.

Aber ich bin mehr. Mehr, als ich mir je erträumt habe. Nicht perfekt, längst nicht, aber passend. Für mich. Nur für mich. Und die Meinung anderer spielt keine Rolle mehr.
Und ich habe erkannt, dass ich nicht in einem Satz erklären können muss. Ich bin mehr. Mehr, als in meine Worte passt. Keine absoluten Fakten, sondern verschachtelte Sätze – verschnörkelt und oft reimend. Und manchmal vergesse ich am Ende des Satzes, wie er anfing …
Aber das ist okay.
Und in Momenten wie jetzt, wenn ich im Garten sitze und mir den Kopf zerbreche, höre ich die Stimme meiner Herzensomi – meines Orakels und meiner Seelenverwandten – und lausche ihren Worten: „Liebes, du bestimmst, wer du bist. Und wenn du meine Meinung hören möchtest, solltest du dir vornehmen, einfach der wundervolle Mensch zu bleiben, der du schon immer warst.“

Das sagte sie vor 20 Jahren zu mir. Und das bleibt mein Ziel.


Im Geest-Verlag erschienen in dem Buch 'Heimat und Identität'