20.10.2020 - aktuelle Autorin - Marie-Luise Knopp

Marie-Luise Knopp
wurde 1942 in einem kleinen Ort der ehemaligen DDR geboren, 10 Jahre arbeitete sie als Deutsch- und Geschichtslehrerin in Leipzig. Wegen geplanter Republikflucht inhaftierte die DDR sie ein Jahr im Frauengefängnis Burg Hoheneck. Nach dem Freikauf arbeitete sie 30 Jahre als Lehrerin an einer Förderschule, davon 20 Jahre in der Abteilung Kinder- und Jugendpsychiatrie der Rheinischen Landes- und Hochschulklinik. Sie absolvierte ein Zusatzstudium mit dem Abschluss Individualpsychologische Beraterin (DGIP). Ihr Interessenschwerpunkt war die Arbeit mit psychisch kranken Kindern. Hier führten mehrere Schreibprojekte zu Büchern und Lesereisen mit den Kindern und Jugendlichen quer durch Deutschland.

Im Geest-Velag erschienen:

Freundschaft trotz Mauern

 

Eingesperrte Gefühle

bahnen sich ihren Weg

Burg Hoheneck und ein Leben danach

 http://geest-verlag.de/shop/knopp-marie-luise-eingesperrte-gef%C3%BChle-...

 daraus

Meine Tragödie begann, als ich 10 Jahre alt war.
Ich wunderte mich, dass ein Brief, dessen Inhalt meine Eltern vor mir geheim hielten, eine derartige Aufregung auslöste. Neugierig lauschte ich an der verschlossenen Tür. Als ich mehrmals meinen Namen hörte und diese angespannte Atmosphäre nicht mehr ertragen konnte, ging ich zu ihnen und fragte: „Was ist eigentlich los hier, stundenlang diskutiert ihr heimlich und verschließt alle Türen. Sollte ich nicht endlich in euer Geheimnis eingeweiht werden?“
Meine Eltern sahen sich verunsichert an, dann ergriff meine Mutter das Wort. „Marie, vor Kurzem teilte uns ein Rechtsanwalt mit, dass uns eine weitläufige Verwandte ein Haus vererben möchte.“
„Aber was ist daran schlecht? Ihr wolltet schon immer ein eigenes Haus. Warum diese Heimlichtuerei und eure sorgenvollen Gesichter?“
Nun fasste sich meine Mutter ein Herz und erklärte mir un-ter dem Siegel absoluter Verschwiegenheit Folgendes: „Schon seit längerer Zeit planen wir, die DDR zu verlassen, um in Hamburg zu leben. Aber uns fehlte bisher der Mut für diesen Schritt. Nun kommt diese Erbschaft dazwischen.“
Mein Vater ergänzte, dass sie sich für das Haus entschieden hätten.
Ich fragte neugierig: „Und wo ist nun das Problem?“
„Das Problem bist du, Marie. Wir müssten in einen 80 Kilometer entfernten kleinen Ort ziehen, du kämst in eine neue Schule und hättest kaum noch Kontakt zu deinen Freundinnen. Auch deine Schwester Hannah wäre nicht mehr bei uns, weil sie eine Lehrstelle in der Nähe von Berlin gefunden hat“, klärte meine Mutter mich auf.
‚Ein noch kleinerer Ort, ohne die geliebte größere Schwester, ohne Freundinnen – Schulwechsel, Leben mit einer mir völlig fremden Tante.‘ Wie sollte ich mich unter diesen Umständen auf das eigene Haus freuen! Ich verlor die Beherrschung und fing an zu weinen. Meine Eltern versuchten ver-gebens mich zu trösten. Sie sagten, dass alles gut werden würde und ich bestimmt bald neue Freundinnen hätte. Zu dem Zeitpunkt ahnte ich nicht, dass alles noch viel schlimmer war. Wir erbten zwar ein relativ großes Haus, Klinkerbau, mit Garten, Scheune, Acker und Ställen für Ziegen und Schweine. Allerdings stellte die sehr religiöse Tante den größten Bereich des Hauses der Kirche zur Verfügung. So fanden regelmäßige Bibelstunden, der Frauenkreis oder auch Konfirmationsunterricht in unserem Haus statt. In den Wintermonaten wurde sogar ab und zu der Gottesdienst bei uns abgehalten, weil man die alte Kirche nicht warm bekam. Durch das Öffnen einer Flügeltür war genügend Platz für die kleine Gemeinde.
Meine Mutter betrieb im Haus die Poststelle mit dem einzigen öffentlichen Telefon des Dorfes.  Dafür wurden der Erker und der geräumige Korridor genutzt. Das bedeutete im vorderen Bereich des Hauses ein reges Raus und Rein zur Poststelle und zu den kirchlichen Veranstaltungen. Ebenso unruhig ging es im Anbau zu. Mein Vater hatte dort seine Schuhmacherwerkstatt eingerichtet. Nur der mittlere Teil konnte als Privatbereich, mit Küche und Wohnzimmer, genutzt werden. In der oberen Etage befanden sich das Elternschlafzimmer und ein geräumiger Dachboden, den man später ausbauen wollte.
Es hätte alles so perfekt sein können. Aber die Sache hatte einen Haken: Im Haus gab es keinen Platz für mich. Ich war 10 Jahre alt und musste mir mit meiner 80-jährigen Tante ein Zimmer teilen und sogar neben ihr im Ehebett schlafen. Nacht für Nacht ertrug ich ihr grässliches Schnarchen. Um Schularbeiten machen zu können, wurde für mich in der Werkstatt meines Vaters eine kleine Ecke eingerichtet. Selbst das gestaltete sich schwierig. Das Radio dudelte den ganzen Tag, Kunden kamen und gingen. Die Luft, eine Mischung aus Pfeifentabak, Schleifpapier, Schuhcreme, Lack und Leder, vernebelte mir den Kopf.
So war es kein Wunder, dass ich die täglichen Ausflüge mit meinen drei Ziegen herbeisehnte. Jeden Nachmittag nach der Schule trottete ich, eine Decke unter dem Arm und ein Buch in der Hand, drei Ziegen als Gefolge, zu einer großen Wiese. „Susi, Reni, Gretchen“, rief ich, wenn es mir nicht schnell genug ging.
Bis auf die eigenwillige Susi, die einzige mit Hörnern, gehorchten sie prompt, denn sie freuten sich auf die saftigen Blätter des Holunderbusches und auf das frische Gras. Wenn ich die Stricke gelöst hatte und die drei versorgt waren, brei-tete ich meine Decke aus und vertiefte mich in mein Lieblingsbuch „Helenes Wanderjahre“. Ja, dieses Buch nährte meine Sehnsüchte und Träume. Auch Helene, die Protagonistin des Buches, konnte sich nichts Schöneres vorstellen, als aus der Monotonie und Enge eines kleinen Dorfes auszubrechen, ebenso wie ich.