21. August 2017 - aktueller Autor - Andreas Rüßbült

 

Andreas Rüßbült
1961 in Lemwerder, Kreis Weser­-marsch geboren. Seit 1976 lebt er in Brake an der Unterweser, ver-heiratet und Vater von drei Kin-dern.
Sein Interesse gilt seit Jahren der deutschen Geschichte, insbeson-dere der NS-Zeit in seiner nord-deutschen Heimat.
Ein weiteres Interessensgebiet ist die Geschichte der Lakota- Indianer Nordamerikas. Beiden historischen Themen gemeinsam ist der versuchte Genozid an einem Teil der Be­völkerung. Die Frage nach dem ‚Warum‘ steht dabei im Mittelpunkt nicht nur seines historischen Forschungsinteresses. Rüßbült betrachtet das historische Geschehen von unten, aus Sicht des ‚kleinen Mannes‘, ob Täter oder Opfer. Dies gibt seinen Erzählungen eine Nähe, die berührt, oft auch betroffen macht.

 

Ausschnitt aus seinem demnächst erscheinenen Roman: Gefangen in seiner Zeit' - Die Geschichte des Heinrich Cohrs (1931-50)

 

 

Brake im Sommer 1931

Dunkle, regenschwere Wolken zogen über die Stadt am Strom hinweg, überquerten den Fluss und erreichten schnell die Weserinsel Harriersand, unsere Hausinsel, wie wir Braker gerne sagten. Dort, auf Harriersand, verbrachten wir die Sommer unserer Kindheit und spielten am Strand Krieg. Dort waren wir wütende Piraten, raubeinige Seeleute oder, in unseren Marineanzügen, auch des Kaisers Soldaten. Wir, das waren meine Freunde Adolf, Paul, Sammy – und natürlich ich, Heinrich Chors, genannt Heini. Sammy hieß mit richtigem Namen Samuel, er war ein Jude, doch das machte für uns damals noch keinen Unterschied. Wir waren Jungens im selben Alter, gemeinsam heckten wir Strei¬che aus, gemeinsam schwärmten wir später für Mädchen und tranken gemeinsam unser erstes Bier. Wir waren unzertrennlich, bis die Ereignisse der Zeit uns fortris-sen.
Von der nahe gelegenen Faber-Werft drangen die Schläge der Hämmer auf die Nieten herüber. Dieses gleichmäßige Schlagen der Hämmer auf die Metallköpfe war mir ebenso vertraut wie das ständi-ge Klatschen der Wellen am Steg hinter unserem Haus. Ich überlegte kurz, ob ich nicht hinüberlaufen sollte, um etwas Holz zu stehlen, oder mit etwas Glück auch einige Stücke Kohle. Nicht so sehr, weil ich es gebraucht hätte, vielmehr aus einer Art sportlichem Ehrgeiz heraus. Die reiche Familie Faber zu beklauen, machte nicht nur mir immer wieder Spaß, es war unter den einfachen Leuten schon eine lieb gewonnene Tradition. Allerdings hatten wir vor dem Seniorchef, dem alten Faber, einen Mordsrespekt, denn wenn dieser einen beim Klauen erwischte, dann blühte demjenigen eine ordentliche Tracht Prügel. Es war jedoch nicht die Angst vor Prü-geln, die mich abhielt, denn dies war nun einmal das Risiko, welches man einging beim Klauen. Vielmehr war es so, dass der alte Werftbesitzer meine Familie hasste, abgrundtief hasste, und wenn er mich erwischte, mich ganz besonders hart bestrafen würde. Mein Vater hatte mir, als ich ihn danach fragte, den Grund für den Hass auf uns erzählt.
Es war im Jahre 1860, als in Brake die Schiffszimmerer in den Streik traten. Mein Opa arbeitete zu jener Zeit auf der Faber-Werft und war aktiv an diesem Streik beteiligt. Damals waren die Oldenburger Dragoner des Großherzogs von Faber gerufen worden. Als sie aus Oldenburg kamen, da ritten sie die streikenden einfach nieder, knüppelten sie so lange, bis ihnen die Lust auf Streik vergangen war. Die Rädelsführer, unter denen auch mein Opa war, wurden entlassen, womit für meine Familie eine Zeit der Armut und des Hungerns begann. Mein Opa war damals noch recht jung, mein Vater noch gar nicht geboren, doch Fabers Rache sollte über Jahrzehnte Bestand haben und sich auf seine Söhne vererben. Selbst als mein Vater 20 Jahre später eine Lehre als Schiffszimmerer auf Fabers Werft antreten wollte, bekam er diese Stelle nicht, obwohl er ein guter Schüler gewesen war und auch das Talent seines Vaters geerbt hatte. In meiner Familie hatte es eine lange Tradition von Schiffszimmerleuten gege-ben, doch mir wurde schon von klein auf gesagt: „Du gehst auf keine Werft und arbeitest für diese Halsab-schneider.“ Der Zorn saß tief, auf beiden Seiten.
Jetzt, im Sommer 1931, war ich 15 Jahre alt und für mich im besten Alter meines Lebens. Ich hatte, wie meine Freunde auch, die Volksschule in diesem Sommer beendet und im Anschluss eine Lehrstelle in Meyers Kolonialwarengeschäft angetreten. Nicht, dass es mein Traumberuf gewesen wäre, nein, wie alle Jungen in meinem Alter träumte ich von der großen weiten Welt und wäre lieber Seemann geworden, dennoch war es mir ganz recht, dort eine Lehre zu beginnen, weil mit mir auch mein bester Freund Sammy dort angefangen hatte und wir uns auf eine lustige Zeit freuten. Ja, und dann war da auch noch Martha, die Tochter der Meyers, die mich damals schon mit ihren goldgelben Haaren, die sie zu Zöpfen geflochten trug, zum Wahnsinn brachte. Nicht nur mich, alle Jungen in unserem Alter waren hinter Martha her, sie wusste es, genoss es und ehrlich, sie war ein Aas.
In diesem Sommer bekam ich dann auch endlich meine erste schwarze Hose, meine erste mit langen Hosenbeinen wohlgemerkt. Mutter hatte die Hose für mich geändert, denn es war eine getragene Hose meines Vaters. Dazu ein Hemd mit steifem Kragen, der mich ständig würgte. Er scheuerte und drückte und ich hätte ihn am liebsten abgeschnitten, traute mich aber nicht. Ich wusste, Mutter hatte lange dafür sparen müssen. Mein Vater war, nachdem er nicht Zimmermann werden konnte, Weserfischer geworden, das brachte aber schon damals nicht viel ein. Außerdem stank es bei uns ständig nach Fisch. So wurde ich oft von anderen Jungs gehänselt. Allen voran von Hans und Werner, deren Väter zur besseren Gesellschaft Brakes zählten, obwohl der Vater von Hans auch nur ein Gastwirt und Werners Vater Angestellter im Rathaus war, aber immerhin, das war mehr als ein Weserfischer.
Die Arbeit in Meyers Kolonialwarenhandlung be-deutete für mich zunächst einmal die Befreiung vom Fisch. Bis dahin hatte ich immer meinem Vater helfen müssen. Meine Aufgaben übernahm nun mein kleiner Bruder Erich. Reusen setzen, Fisch ausnehmen und abschuppen, im Winter Reusen reparieren und Netze spleißen, all das gehörte für mich von nun an der Vergangenheit an, zumindest innerhalb der Woche, wenn ich arbeiten musste. Nun war mein Bruder dran, auch wenn ihm das nicht sonderlich behagte. Vater schaffte die Arbeit nicht allein, und Mutter saß sowieso jeden Tag an der Nähmaschine und nähte für andere Leute gegen Bezahlung. Mutter war eine begabte Näherin, doch da der Geruch nach Fisch in unserem Haus allgegenwärtig war, blieben die besse-ren Leute fern. Nur die einfachen Leute ließen sich Kleider von meiner Mutter schneidern, meist sogar nur ändern. Mutter konnte sich noch so viel Mühe geben, das Geld reichte hinten und vorne nicht, daher musste auch ich das meiste meines Lohns zu Hause abgeben. Das störte mich damals nicht, es war nun einmal so.