21. Juni 2017 - aktuelle Autorin - Katharina Paulus


 


Katharina Paulus, geb. Lichtenfeld, wurde 1934 geboren. Sie verlebte ihre Kindheit in großer Freiheit und Naturverbundenheit mit ihren drei Geschwistern auf dem elterlichen Bauernhof in Roda, einem kleinen, verträumten Dorf im Burgwald in Nordhessen. Schon in jungen Jahren inte­res­sier­te sie sich für das, was in der Familie an alten Urkunden und Schriften aufbewahrt wurde und erlernte die Sütterlinschrift, um die alten Auf­zeichnungen, Kirchenbücher und Brie­­fe lesen zu können. In den 1980/90er Jahren verfasste sie eine Familienchronik und eine umfangreiche Ahnentafel.Viele Jahre leitete sie in ihrem Ort den Gitarrenunterricht, Batik- und Ostereiermalkurse, engagiert sich bis heute bei sozialen Aufgaben wie die Organisation von Schulranzen für bedürftige Kinder in Osteuropa.
2005 schrieb sie ein erstes, humorvolles Buch über Erlebnisse mit ihren Enkelkindern.

 

MEINE GEBURT

Beinahe wäre ich in der Badewanne geboren worden!
Es war früh Winter in jenem Jahr. Dicker, weißer Schnee lag auf den Straßen, sodass man nicht mehr mit der Kutsche fahren konnte, weil die Räder im Schnee versanken. Man musste die Pferde nun vor einen Schlitten spannen, der leicht über die weiße Pracht glitt, wenn man sich fortbewegen wollte.
Es war schon Abend, als Vater zum Nachbarn eilte und ihn bat, doch schnell noch einmal die Pferde anzuspannen und ins Nachbardorf zu fahren, um die Hebamme zu holen, denn er selbst hatte weder Pferd noch Schlitten. Der Bauer holte seine schweren Stiefel vom Ofen, wo er sie zum Trocknen abgestellt hatte, nachdem er sie mühevoll mit einem Stiefelknecht von den schweißigen Füßen gezogen hatte, und zog sie umständlich wieder an. „Mach schnell, es eilt!“ Vater ging alles zu langsam. Er half noch beim Anspannen, damit das Gefährt schneller auf den Weg kam. Es waren immerhin vier Kilometer, die man bis ins Nachbardorf zurücklegen musste. Die Straßen waren nicht geräumt, an Galopp war nicht zu denken. Außerdem war es recht kalt. Mo-ritz, der Nachbar, hatte sich eine dicke Decke um die Beine gewickelt und wedelte mit der Peitsche über den Rücken der Pferde, um sie zur Eile anzu-feuern.
Die Hebammen hatten in jener Zeit ihre Köfferchen immer parat stehen und waren auf Überra-schungen gefasst. Anfang der Dreißigerjahre des vorigen Jahrhunderts wurden viele Kinder geboren. Allein in unserem kleinen Dorf waren es in diesem einen Jahrgang 1934 sechzehn Kinder. Die späteren Jahrgänge fielen wegen der Einberufung der Männer zum Wehrdienst und des Zweiten Weltkrieges spärlicher aus.
Die Hebammen hatten meistens mehrere Dörfer zu betreuen. Im Sommer konnten sie mit dem Fahrrad zu den Wöchnerinnen fahren, wenn sie denn eines hatten – und es fahren konnten, aber im Winter muss¬ten sie zu Fuß gehen oder mit dem Pferdefuhrwerk geholt werden.
Mit langen Schritten eilte Vater, nachdem er Mo-ritz noch einmal zur Eile angetrieben hatte, wieder nach Hause, wo er seiner jungen Frau im Schlafzimmer eine Zinkbadewanne mit Wasser gefüllt hatte, weil sie vor der Entbindung erst noch baden wollte. Sie würde nach der Geburt acht Tage im Bett bleiben müssen. Das war das Wochenbett. Jede Mutter musste dies Wochenbett hüten, wenn sie ein Kind geboren hatte, das gehörte sich zu damaliger Zeit so. Die ,Gebärmutter muss erst zur Ruhe kommen’, hieß es.
Trotz der ersten Wehen, die Mutter wohl wegen ihrer Unkenntnis im Kinderkriegen nicht als sehr alarmierend empfunden hatte, wollte sie den Stall noch fertig machen, bis Vater von der Arbeit kam. Sie melkte und fütterte die Kühe, ebenso die Schweine und das Federvieh. Das war seit ihrer Hochzeit ihre tägliche Arbeit, die vorher von ihrer Schwiegermutter gemacht worden war.
Hätte die Schwiegermutter gewusst, dass Liesbeth Wehen hatte, so hätte sie gewiss eingegriffen,
aber sie hatte keine Ahnung! Mutter hatte es ganz geheim gehalten! Man sprach nicht offen über so etwas. Das Kinderkriegen und alles, was damit zusammenhing, war von einer geheimnisvollen Scheu umgeben und für junge Ehepaare eine große Überraschung. Oma legte sich an diesem kalten Frühwintertag bald zu Bett, ohne zu ahnen, dass heute Nacht noch ein Enkelkind geboren würde.
Als Vater endlich ins Schlafzimmer kam, saß seine Frau noch immer in der Badewanne und war der Verzweiflung nahe. „Henner, wo bleibst du denn! Ich hab’ das Gefühl, das Kind kommt bald. Soll ich es in der Badewanne kriegen? Du musst mir schnell helfen, dass ich ins Bett komme!“
Mit seinen kräftigen Armen packte er seine Frau, hob sie wie ein rohes Ei vorsichtig aus der Wanne heraus und trocknete sie mit dem Handtuch ab, dann half er ihr ins Nachthemd und ins Bett.
Mutter wand sich in Wehen und Vater rannte vom Bett zum Fenster, als könne er so einerseits die Geburt hinauszögern und andererseits die Hebamme herbeizaubern.