13.04.2023 - aktuelle Autorin - Lisette van Vlijmen

Lisette van Vlijmen

Ein langer Brief an meine Kinder

Von Westerbork
über Bergen-Belsen
und Theresienstadt bis heute

in deutscher und englischer Sprache

Geest-Verlag 2017

ISBN 978-3-86685-627-1

256 S., 12,80 Euro

daraus die Einleitung:

 

Nachdem die viereinhalbjährige Lisette van Vlijmen bei ver­schie­denen Familien versteckt war, wird die inzwischen Siebenjährige verraten und am 15.4.1944 ver­haftet und ins Lager Westerbork ver­bracht. Vom 13. Sep­tember 1944 bis zum 8. Mai 1945 war sie in Bergen-Belsen und The­resien-stadt inhaf­tiert. Sie gehört zur Gruppe der 50 ‚Unbe­kannten Kin­der‘, die über­leben. Nach der Befrei­ung vom Fa­schismus kehrte sie am 1. Juli 1945 nach Holland zurück.
In diesem Buch erklärt sie ihren Kin­dern, in welcher Weise die­se Jahre sie in ihrem spä­teren Sein ent­scheidend ge­prägt haben. „Ich hoffe“, so schreibt die Autorin, „dass das Nieder­schreiben meiner Ge­schich­te auf Papier mir eine Er­leich­terung bringen wird, dass das schwerste Kapitel meines Lebens zu einem Abschluss kommt. Ich hoffe außerdem, dass ich auf diese Weise etwas von mir zurücklassen kann. Für euch und, nicht zu verges­sen, für kommende Gene­rationen.“

 

 

Nach Informationen des Holländischen Roten Kreuzes war die Betroffene vom „Jüdischen Rat“ als vollständig jüdisch registriert worden. Nach einer Zeit des Versteckens bei verschie-denen Familien in Holland wurde sie am 15. April 1944 verhaftet und ins Lager Westerbork verbracht. Vom 13. September 1944 bis zum 8. Mai 1945 war sie in Bergen-Belsen und Theresienstadt inhaftiert. Nach der Befreiung kehrte sie am 1. Juli 1945 nach Holland zurück.
„Die Genannte kann für das Tragen des Sterns vom 21. Oktober 1943 bis 15. April 1944 und für den Verlust der Freiheit entschädigt werden. Aufgrund dessen gilt der Bewerber laut Artikel 2 als entnisch verfolgt und qualifiziert für WUV 1940-45.“


Meine lieben Kinder,

dies wird der längste und womöglich auch schwerste Brief, den ich je an euch schreiben werde. Es ist ein Brief, um euch endlich in mein Leben zu lassen und euch meine Lebensgeschichte zu erzählen, so, wie ich mich an diese erinnere. Alles auf Papier zu bringen, so dachte ich mir, ist für mich der beste Weg. Es ist weniger bedrohlich, als euch in einer Unterhaltung gegenüberzustehen. Aus Erfahrung weiß ich, dass meine Stimme dabei irgend-wann brechen würde. Und außerdem, wer von euch hat Zeit, sich Mamas lange Geschichte anzuhören? Es ist so viel passiert.

Es ist viel mehr passiert, als ich euch in der Vergangenheit erzählt habe. Ihr kennt bisher nur Bruchstücke. Ich habe euch nie viel von meiner Vergangenheit erzählt! Die schmutzigen Erinnerungen wollte ich vergessen, den schmerzlichen Teil meiner Vergangenheit verstecken, ein neues Leben beginnen. All die Jahre habe ich euch vor meinem Schmerz schützen wollen. Jetzt, mit 63 Jahren, habe ich entschieden, die Truhe meiner Vergangenheit zu öffnen. Mein Geheimnis soll nicht länger ein Geheimnis sein. Euch möchte ich alles preisgeben. Ich fühle, dass ihr das Recht habt, es zu erfahren.
Vor Jahren, wie ihr wisst, habe ich bereits den Drang verspürt, jemandem von meinem Leben zu erzählen. Warum einem Fremden, fragt ihr euch? Dafür gibt es hauptsächlich psychologische Erklärungen. Aber ich weiß, dass ich mich lange Zeit schämte, darüber zu sprechen.

Ich wählte Taco, einen holländischen Journalisten, weil der meine Hintergrundgeschichte nicht kannte. Ich traf ihn auf einer Party in unserem Haus in Ra’anana. Vom ersten Moment an, als ich ihn kennenlernte, fühlte ich, dass ich ihm vertrauen konnte und er mir vielleicht helfen könnte. Seine Reaktion war überaus positiv. Er interviewte mich und nahm meine Geschichte auf. Das passierte in den Achtzigern.
Später schlug er mir vor, ein Buch über mein Leben zu schreiben. Zuerst lehnte ich ab. Aber dann brachte er mich in seinem Haus im holländischen Utrecht mit einem Verleger zusammen. Da konnte ich nicht widerstehen. Wir sprachen stundenlang. Wir machten einige Tonaufnahmen, wir fuhren sogar nach Theresienstadt. Aus dem geplanten Buch ist jedoch nie etwas geworden. Taco wurde krank und war für ein Jahr aus dem Verkehr gezogen. Aus diesem Grund scheiterte das Vorhaben komplett.

Kürzlich hat mir meine Freundin Willy (Tim, zum Verständnis, das ist eine Frau) vorsichtig vorgeschlagen, dass ich das Projekt doch zu Ende bringen sollte. Als sie mir ihre Hilfe anbot, akzeptierte ich, glücklich und widerstrebend zugleich. Das hieß nämlich, dass ich ihr meine persönlichsten Gedanken anvertrauen musste. Es hieß zudem, dass ich vor einem Computer sitzen und alles in Gedanken noch einmal erleben musste.
Willy, die holländische Journalistin ist, schlug vor, meine Geschichte in Form eines Briefes aufzuschreiben. Eine Art umfassender, monumentaler Rückblick.
Sie wird anschließend Ordnung in die Vielzahl von Briefen bringen, die ich jetzt an euch schreiben werde, und in das Material, das Taco bereits aufgenommen hat.

Was ihr nun lesen werdet, hat dazu beigetragen, wie ich war und wie ich heute bin. Das ist der Grund, warum ich auch mein Leben nach dem Zweiten Weltkrieg in das Erzählen einbezogen habe. Mit euch, meine Kinder, werde ich meine Kindheit, meine Zeit in den Lagern, meine Erinnerungen an meine Eltern und an meine Ehe mit eurem Vater teilen. Zwischen all diesen Erinnerungen werde ich euch von Zeit zu Zeit außerdem erzählen, wie es mir heute ergeht. Ich möchte mit euch meinen Alltag teilen.
Ich hoffe, dass das Niederschreiben meiner Geschichte auf Papier mir eine Erleichterung bringen wird, dass das schwerste Kapitel meines Lebens zu einem Abschluss kommt. Ich hoffe außerdem, dass ich auf diese Weise etwas von mir zurücklassen kann. Für euch und, nicht zu vergessen, für kommende Generationen.
Also seht es als eine Skulptur, die ich erschaffen habe, oder als ein Bild, das ich gemalt habe, oder als ein Buch, das ich geschrieben habe.

Mein Vermächtnis.