24. März 2017 - aktuelle Autorin - Christa Dromowicz

Christa Dromowicz
1942 in Beuthen/Oberschlesien geboren, als Flüchtling nach Emstekerfeld gekommen, später nach Cloppenburg gezogen, wo sie seit dieser Zeit lebt und viele Jahre ge­arbeitet hat.

 
Im Geest-Verlag erschienen:

 

Auszug aus Keiner wird mich weinen sehen

Zwangseinweisung

Wie nahe lagen Leben und Tod doch in jenen Jahren zusammen.
Mein Bruder Manfred war fast zwei Jahre alt, als ich am 8. Januar 1942 in Beuthen/Oberschlesien in unserer Wohnung in der Hohenzollernstraße 21 geboren wurde. Mutter schrieb ihrem Mann nach Russland an die Front, dass sein zweites Kind, eine Tochter, zur Welt gekommen sei. Dem Brief legte sie ein Foto von mir bei. Vater war stolz und glücklich und teilte außer seiner Freude mit, dass er aufgrund dieses Ereignisses Heimaturlaub bekäme und in Kürze seine Familie in die Arme schließen könne.
Aber dazu kam es nicht mehr. Eine Kugel traf ihn am Rücken. Er wurde ins Lazarett bei Woronesch eingeliefert und verstarb an den Folgen dieser Verletzung am 28. Juli 1942. Mutter bekam anstelle seiner Umarmung ein maschinell auf graues Papier gedrucktes Schreiben folgenden Inhalts:

„Der Obergefreite Hubert Hoheisel, Inh. des E.K.II und Inf. Sturmabzeichens fand im Alter von 31 Jahren bei den harten Abwehrkämpfen um Woronesch, östlicher Kriegsschauplatz, den Heldentod.
Die Gewißheit, daß Ihr Mann für die Größe und Zukunft unseres ewigen deutschen Volkes sein Leben hingab, möge Ihnen in dem schweren Leid, das Sie betroffen hat, Kraft geben und Ihnen ein Trost sein.   
Heil Hitler“


Anbei lagen Vaters Papiere und mein Foto.

Am 13. Februar 1945 marschierten die Russen in Beuthen/ Oberschlesien ein. Sie stürmten auch das Wohnhaus in der Hohenzollernstraße. Wie Mutter mir später erzählte, betrat ein bewaffneter blutjunger Soldat der russischen Armee unsere Stadtwohnung. Mutter stand am offenen Fenster, meinen Bruder und mich auf dem Arm. Sie wollte, falls der Soldat Anstalten machen würde zu schießen, mit uns aus dem Fenster springen. Dass dies auch unseren sicheren Tod bedeutet hätte – wir wohnten im vierten Stock – so weit dachte sie damals nicht.
Der junge Russe sah sich in der Wohnung um, gewahrte das mit einem Trauerflor versehene Bild meines Vaters, nahm es in die Hand und stellte in seiner Sprache Fragen an Mutter. Natürlich verstand sie ihn nicht. Durch Gesten machte sie ihm verständlich, dass dies ihr im Krieg gefallener Ehemann und der Vater dieser Kinder sei und sie, falls er das Gewehr auf uns richten würde, ihr Vorhaben wahr mache und vorher mit ihren beiden Kindern aus dem Fenster spränge.
Der junge Soldat ging auf das Fenster zu, schloss es, stellte das Bild zurück, drehte sich auf dem Absatz um und verließ die Wohnung.
Mutter stopfte Kleidung und Lebensmittel in meinen Kinderwagen, zerbrach das Hochzeitsgeschenk ihres Mannes, ein Granatarmband, steckte jeweils eine Hälfte in meine Schuhe, nahm die wegen der ständigen Bombenangriffe stets bereitliegende Tasche mit Papieren in die Hand und verließ für immer ihre Heimat, an der einen Seite des Kinderwagens ihren fünfjährigen Sohn, an der anderen ihre dreijährige Tochter.

An die Flucht und anschließende Vertreibung kann ich mich nicht mehr erinnern. Meine erste und gleichzeitig schrecklichste Kindheitserinnerung ist die der Ankunft auf einem düsteren Bauernhof in Niedersachen im Sommer 1946.
Wir besaßen nur das, was wir am Leibe trugen. In meinen Schuhen steckten noch immer die zerbrochenen Teile des Granatarmbandes. Mutter besaß nicht einmal mehr ihre Handtasche. Die Papiere trug sie am Körper, unter anderem das Wehrbuch ihres verstorbenen Mannes und das obligate maschinengeschriebene graue Blatt Papier. In der Hand hielt sie den Einweisungsbescheid für Vertriebene.
So standen wir drei auf dem sandigen Platz eines düsteren Bauernhofes. An dessen Rand befand sich ein riesiger rußverschmierter Kessel, unter dem ein Holzfeuer brannte. Und davor stand eine alte Frau, die sich auf einen Stock stützte. Sie trug einen dunklen, grobderben, weiten Rock, der bis auf den Boden reichte und darüber eine dicke, ebenfalls dunkle Jacke. Alles an ihr sah dunkel aus, das Gesicht war zudem hager und ihre Haare waren unter einem dicken Tuch, das im Nacken verknotet war, versteckt. Unter ihrer Nasenspitze bildete sich immer wieder ein glasklarer Tropfen, der größer wurde und auf ihren Handrücken tropfte.
Ihr Anblick erschreckte mich, aber auch dieser riesige Kessel und das darunter lodernde Feuer. Mit dem Stock, auf den sie sich vorher gestützt hatte, stocherte sie in dem Holz herum, das zu knistern begann. Ich stand wie erstarrt, erwartete jeden Augenblick, dass mich die Frau ergreifen, in den Kessel werfen und kochen würde.
Und dann geschah das für mich Unfassbare. Mutter ließ meine Hand los, drehte sich um und machte Anstalten, mit meinem Bruder fortzugehen. Sie wollte nur die noch erforderlichen Formalitäten bei der Stadtverwaltung erledigen, aber das verstand ich nicht. Ich geriet in Panik, schrie wie am Spieß, rannte ihr nach und klammerte mich verzweifelt an sie.
Und da schlug sie mich.
Ich wollte doch nur verhindern, dass sie mich allein zurückließe - und sie schlug mich. Verzweifelt warf ich mich auf den Sandboden und strampelte. Aber sie ging dennoch.
Voller Angst suchte ich Schutz unter Johannisbeersträuchern. Die so schrecklich dunkel gekleidete Frau kam mir nach, sprach sogar freundlich auf mich ein. Als sie sich aber bückte und die Hand nach mir ausstreckte, um mich aus meinem Versteck herauszuholen, kroch ich unter den nächsten Strauch. Es gab eine ganze Reihe davon. Die alte Frau wäre bei ihrem Vorhaben bald vor Erschöpfung umgefallen. Ich sah mich in meiner Fantasie schon unter ihrem weiten Rock ersticken. Mein Herz schlug irrsinnig schnell und ich hörte es in meinem Hals pochen. Das Märchen von ‚Hänsel und Gretel’ schoss mir in Sekundenschnelle durch den Kopf, zumal jetzt auch noch eine graue Katze förmlich an ihrem Rock klebte.
Die Bäuerin hatte die Nase wohl gestrichen voll von dem „schrecklichen Polengör“, wie sie mich später immer nannte, und schlurfte zurück in Richtung Haus. Vor lauter Erschöpfung bin ich eingeschlafen. Erst das Rufen der Mutter und meines Bruders „Christel, wo bist du?“ weckte mich. Ich konnte es gar nicht fassen. Sie waren zurückgekehrt. Ich fühlte mich frei wie ein Vogel und flog auf die beiden zu, direkt in Mutters ausgebreitete Arme. Natürlich heulte ich sofort wieder los, aber aller Kummer war vorerst vergessen. Den restlichen Tag wich ich allerdings nicht mehr von Mutters Seite. Man konnte ja nicht wissen.