25.11.2021 - aktuelle Autorin - Margret Küllmar

Margret Küllmar, Fritzlar
Briefwechsel


Hallo Petra,
wie tief bin ich gesunken! Ich sitze im Seniorenheim und das mit meinen dreiundsechzig Jahren, aber oh-ne mein rechtes Bein. Hier wimmelt es nur so von dementen, übel riechenden, alten Weibern. Es ist einfach schrecklich, aber was soll ich tun? Womit habe ich das verdient?
Weißt du, was ich mache aus lauter Verzweiflung? Ich lese den Gemeindebrief der hiesigen Kirchengemeinde. Ich, Rainer Bender, der gleich nach der Konfirmation aus diesem scheinheiligen Verein ausgetreten ist. (Die Geschenke und die Feier habe ich selbstver-ständlich noch mitgenommen, ha, ha, ha.)
Ganz vorn auf diesem Käseblättchen ist die Jahreslo-sung für 2021 abgedruckt: ‚Seid barmherzig, wie auch euer Vater barmherzig ist‘. Dazu schreibt der Ober-chef der Protestanten eine Auslegung. Nur wer Barmherzigkeit erfahren hat, kann barmherzig sein, bla, bla, bla. Er schreibt noch weiter, und wenn ich das Gesülze recht verstehe, widerlegt er seinen Eingangssatz und kommt zu dem Schluss, dass jeder Mensch barmherzig sein kann und auch Barmherzig-keit erfährt. Davon habe ich noch nichts, aber auch gar nichts bemerkt. Mit mir ist im ganzen Leben noch niemand barmherzig gewesen.
Und eins sage ich dir, ich will auch nicht barmherzig sein. Mit wem auch? Etwa mit meinem bescheuerten Bruder, der sich angeblich nach dem Unfall so umsichtig und liebevoll um mich gekümmert hat? Der hat zugelassen, dass sie mir ein Bein abschneiden, und er hat mich in dieses Loch, das sich Senioren- und Pflegeheim nennt, verfrachtet. Bestimmt hätte es andere Möglichkeiten gegeben. Soll ich dafür dankbar und barmherzig sein und ihn als Erben einsetzen? Nichts anderes hat der im Sinn. Nein, da ist mir der Spruch ‚Gleiches mit Gleichem vergelten‘ lie-ber, der steht doch auch in der Bibel.
Stell dir mal vor, was mir die Heimleitung allen Ernstes vorgeschlagen hat. Als gelernter Industriekauf-mann soll ich bei der Abrechnung mit der Pflegekas-se mitarbeiten, oder ich könnte den alten Tanten et-was vorlesen. Ehrenamtlich für Mortadellabrot und Hagebuttentee. Ist das nicht eine Frechheit?
Mit dir, liebe Cousine, habe ich auch noch ein Hühn-chen zu rupfen. Du bist schuld an unserem Verkehrsunfall, am Totalschaden von meinem schönen neuen Porsche. Wir hätten uns nicht streiten müssen, wenn du mir die alte Taschenuhr von deinem verstorbenen Mann vermachen würdest. Was hast du eigentlich davon, du trägst sie nicht und sie ist auch nicht wertvoll. Dein Einwand – Erinnerungsstück – ist ja wohl albern. Du hast die ganze Bude voller Erinne-rungsstücke an den Albert. Jetzt rege ich mich doch schon wieder auf – wie vor dem Unfall. Kein Wunder, dass wir auf der Weide gelandet sind und auch noch ausgerechnet da, wo dieser alte Zosse stand. Stell die mal vor, der Bauer will Schadenersatz für den Gaul, der mein Auto demoliert hat. Die Polizei und die Staatsanwaltschaft spinnen auch. Meinen Führer-schein können sie getrost behalten. Ich kann kein Auto mehr fahren, aber die Anklage von wegen überhöhter Geschwindigkeit und Alkohol am Steuer, die fechte ich an. Siehst du, Petra, das hätte alles nicht sein müssen, wenn du dich nicht so kleinlich angestellt hättest. Und der Gipfel ist, dann legst du dich monatelang ins Koma und kannst mir nicht helfen.
So, das war’s vorerst.
Viele Grüße
Rainer

Hallo Rainer,
du bist noch immer der große, selbstgerechte, egois-tische, vor Selbstmitleid triefende und zynische Kotzbrocken, der du dein Lebtag warst. Trotzdem oder gerade deswegen: In vierzehn Tagen darf ich wieder Auto fahren. Dann komme ich zu dir und wir besprechen, was sich machen lässt.
Viele Grüße
Petra

P.S.: Du hast schon sehr viel Barmherzigkeit erfahren, leider hast du das nicht bemerkt. Wenn dir mal wie-der langweilig ist, denk darüber nach!
 

 

Margret Küllmar, geb. 1950, aufgewachsen auf einem Bauernhof in Nordhessen, Ausbildung in der Haus-wirtschaft, dann Lehrerin an einer Berufsschule, schreibt Kurzgeschichten und Gedichte. Veröffentlichungen in zahlreichen Anthologien und von drei eigenen Lyrikbänden.