28. Juni - aktueller Autor - Alexander Reiser

Alexander Reiser

 

Alexander Reiser, 1962 in Sibirien geboren, See­mann, Saisonarbeiter in
einer Fischfabrik und beim Eisenbahnbau,  Pelztierjäger und
Ginsengsammler . Nach dem Studium der Journalistik an der Universität
in Wladiwostok schrieb er dort für verschiedene Zeitungen und
Zeitschriften. Ende der 90-er Jahre verschlägt es ihn nach Berlin.
Zahlreiche Veröffentlichungen in Deutsch und Russisch.

 

Veröffentlichungen im Geest-Verlag

 
aus dem Vorwort von 'Robbenjagd in Berlin'
Vorwort

Ursprünglich komme ich aus einem kleinen Dorf, Hoffnungstal. Einem Dorf, das nicht, wie man vermuten würde, zwischen Oder und Rhein liegt, sondern im weit entfernten Sibirien. Genosse Stalin, der bekanntermaßen so manches Unmögliche möglich zu machen wusste, hat für dieses ethnografische Kuriosum gesorgt. Im September 1941 ließ er kurzerhand mit einem Erlass die seit 200 Jahren in Russland lebenden Deutsch-stämmigen  aus dem europäischen Teil in die men-schenleeren Weiten hinter dem Ural verbannen, darunter auch meine Eltern samt der ganzen Verwandtschaft. Dank ihm geschah es, dass die Jahrtausendstille im unendlichen sibirischen Urwald mit der hier anmutend klingenden deutschen Sprache gesprengt wurde, wenn sich die Neu-Sibirier in der klirrenden Kälte ein neues Zuhause bauend über die sie hier überraschenden Probleme unterhielten.

„Diese verdammten Schneestürme haben meine Erdhütte bis über das Dach zugeschneit. Musste bis Mittag die Eingangstür freischaufeln …“
„Glück gehabt, dass du beim richtigen Schneehügel angesetzt hast. Sonst hättest du vielleicht Nachbars Kuhstall ausgegraben, die sehen ja alle gleich aus ...“
Eigentlich wuchs ich als Kind ohne jede Ahnung von der ‚weisen’ Nationalitätenpolitik des ‚Vaters aller Völker der Sowjetunion’ auf und glaubte, dass die Deutschen in Pelzmantel und Filzstiefeln zu diesem Breitengrad ge-hörten wie die Schweizer zu den Alpen. Wie alle meine Altersgefährten schaute ich mir im Dorfkino gerne Filme über die tadellosen Heldentaten der Rotarmisten an, die die irgendwie dämlich wirkenden Fritzen’  immer wieder tapfer geschlagen haben. Natürlich war ich auf der Seite der Guten, bis mich eines Tages jemand von der hinteren Bank für die Erwachsenen giftig zurechtwies, dass ich meinen Platz eigentlich bei der Gegenseite zu su¬chen hätte. Damals empfand ich es als eine ungeheuere Unterstellung. Etwas später aber, beim genaueren Nachdenken, musste ich feststellen, dass die von der hinteren Bank, aufgrund meines Namens und meiner Muttersprache, gar nicht so Unrecht hatten. Und so katapultierte mich das Leben schon in einem zarten Alter plötzlich aus dem unbeschwerten Dasein eines ‚Angehörigen’ des Heldenvolks in das Dasein eines geborenen Outsiders, als der ich mich dann auch weiter durchs Leben schlagen musste. Bis es mit Gorbatschows Perestroika plötzlich hieß, dass das Tor aus dem Käfig mit dem Namen ‚Sowjetunion’ offen sei, und auch ich in die weite freie Welt hinaus durfte ...