29. Juni 2016 - aktueller Autor - Thomas Welte

Thomas Welte

1971 in Ravensburg geboren, in Grünkraut aufgewachsen, ist Realschullehrer an einer neurologischen Rehabilitationsklinik am Hochrhein. Mit seiner Familie lebt er in Radolfzell am Bodensee.

Veröffentlichungen im Geest-Verlag

 

Prolog aus Thomas Welte - Yannick

Wenn ich es mir genau überlege, war Yannick immer der Mutigere von uns beiden. Dabei fand ich sein Verhalten am Anfang arrogant, angeberisch, einfach ätzend. Meine Mutter fand das auch. Und trotzdem bin ich immer wieder zu ihm hinübergegangen. Mutter schüttelte dann den Kopf und fragte mich, warum ich das mache. Ich wäre doch auf Yannick gar nicht angewiesen. Schließlich gäbe es noch andere Jungs in meinem Alter in der Nachbarschaft, mit denen ich etwas unternehmen könnte. Und sie schlug mir dann eine ganze Reihe von Jungen zur Freundschaft vor und beschrieb im Einzelnen deren ungeheure Vorteile. Na ja, deren Hauptvorteile lagen wohl darin, dass sie meiner Mutter besser passten. Ich überlegte während ihres Vortrags, warum es mich trotzdem immer wieder zu Yannick zog. Vielleicht war es die umfangreiche Comicsammlung, die mich fast jeden Nachmittag zu ihm trieb. Vielleicht waren es auch die Filme, die wir bei ihm anschauten, wenn seine Eltern nicht da waren. Möglicherweise war es aber auch nur die Langeweile, die man als Junge spürt, wenn man in eine neue Wohngegend zieht.
Damals konnte ich es noch nicht richtig einordnen. Aber heute, acht Jahre später, glaube ich, den wahren Grund zu kennen. Je öfter ich Yannick besuchte, desto vertrauter wurde er mir. Arrogant war er nur, wenn er mit Freunden unterwegs war. Oder in der Schule. Dann zeigte er allen sein neues Computerspiel, erzählte, wie teuer es war und wie viel Geschick es bedürfe, um das nächste Level zu erreichen. Er selber habe schon am zweiten Tag die vierte Stufe erreicht (was ich ihm bis heute nicht abnehme!). Oder er prahlte mit den neuen Autogrammkarten des VfB Stuttgart, die ihm sein Vater besorgt hatte. Sehen durften sie alle, aber anfassen war streng verboten. So war Yannick in der Schule. Und so war er, wenn Freunde da waren.
Aber wenn wir in seinem Zimmer saßen, allein, war Yannick wie verändert. Dann war er nicht der Angeber, wie ihn viele kannten. Dann konnte er teilen. Dann lieh er mir über Nacht sein Computerspiel oder schenkte mir die eine oder andere Autogrammkarte von Spielern des VfB. Natürlich musste ich seine großzügige Geste für mich behalten. Schließlich wollte er nicht, dass Klassenkameraden ihn ständig um einen ähnlichen Gefallen anbetteln würden. Ich habe es ihm versprochen. Und das Versprechen habe ich bis heute gehalten.

Mein Blick schweift ab. Schweift ab nach oben. Weg von dem Punkt, den ich so lange fixiert hatte. Der Himmel ist wolkenverhangen. Grau. Leer. In der Wettervorhersage hatten sie ein Tief vorhergesagt – stürmische Winde und heftiger Regen bis einschließlich Mittwoch. Meine kalten Hände gleiten noch tiefer in die Taschen meiner Jacke. Mittwoch. Am Mittwoch war Mathe. Aber bis dahin war noch Zeit. Unwillkürlich senkt sich mein Kopf und meine Augen starren wieder wie gebannt auf diesen magischen Punkt …