30.07.2020 - aktueller Autor - Günter Berger


 


Prof. Günter Berger
geb. 1929. Nach seinem Hochschulstudium mit Staatsexamen für Kirchen­­musik war er als Organist, Chor­leiter, Dozent für Orgelliteratur, Lehrer für Musiktheorie sowie zuletzt als Professor an der Hochschule für Kunst und Musik in Bremen tätig. Zudem auch bildnerisch aktiv. Für sein musikalisches Schaffen wurde Günter Berger mit zahlreichen Preisen aus­gezeichnet. Schallplatten und CDs kün­­den von seiner musikalischen Ar­beit.
Lebt heute mit der Sozialarbeiterin und Keramikerin Elke Tholen in Dötlingen.
2003 erhielt er die Landschaftsmedaille der Oldenburgischen Landschaft.

 


 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Vom geheimnisvollen Werden (aus Kalikukafranz)


An den Anfang seines Seins, ganz an den Anfang, kommt man wohl nie. Ich selbst, sooft ich es auch versuche, kann mich nicht an das erste, auch nicht an das zweite oder dritte Licht dieser Welt erinnern. Ich weiß auch nichts von meiner Saugerei an der Brust, nichts von der Krabbelei und den ersten Wortversuchen.
Mein Vater durfte offenbar seine Angebetete lange nicht küssen, erstehen konnte er nur Torten- oder Kuchen-stückchen aus jenem kleinen Bäckerladen, wo sie als Ver-käuferin waltete. Denn diese meine Mutter glaubte, Kin-der bekommt man durch einen männlichen Kuss, so ge-stand sie mir später und sprach mir immer gleichzeitig von „Küsschen in Ehren“, was immer das sein mochte oder sein sollte. Erklärt hatte sie es ihrem Sohn nie. Später ahnte ich, was ein Küsschen in Ehren oder ohne Ehren sein könnte oder sein sollte.
Irgendwann mit zwanzig konnte meine jungfräuliche Mutter dem schmucken Felix in Polizeiuniform, vielleicht sogar mit Tschako, nicht mehr widerstehen und prompt war ich nach weiteren 9 Monaten das Ergebnis der Knut-scherei. Natürlich hatten sie vorher geheiratet, kirchlich und katholisch. Wenn ich mir überlege, dass erst nach drei weiteren Jahren meine Schwester Hannchen geboren wurde, haben die beiden sich aber lange nicht geküsst. Das müsste eigentlich ins Guinness-Buch der Rekorde eingetragen werden. Um es aber vorweg zu sagen und meine Mutter, das engelhafte Wesen, zu rehabilitieren, entdeckte ich, vierzehnjährig, eine gewisse Zeit lang „Nuppel“ in der Toilette. Wenn ich meine Mutter darauf ansprach, sagte sie vorwurfsvoll zu meinem Vater: „Kannst du die nicht besser wegspülen!“ Ich wurde hellhörig, ging auf Spurensuche und wurde fündig in der Nachttischschublade meines Vaters. Es muss wohl in der Natur der Sache liegen, dass ich keine Schwierigkeiten hatte, das Ding überzuziehen, vorsichtig wieder abzustreifen und an den Ort meiner Entdeckung zurückzulegen. Es war unnötig, dass meine Mutter mit Erklärungen von Bienen und Schmetterlingen ihre Zeit verplemperte. Desgleichen war das geheimnisvolle Tun meiner Tanten überflüssig, wenn sie Ziegen zum Bock brachten. Jener Vorgang wäre ja für einen Aufklärungsunterricht am anschaulichsten gewesen. Ich musste mir aber von meiner Mutter anhören, dass sie wieder ein Kindchen unter ih-rem Herzen trage. Verwunderlich war nur, dass ihr Herz nicht mehr an der Stelle gewesen sein soll, wo alle Menschen ihre Herzen haben. Warum sprach man nicht vom Bauch, ließ die Geschwister nicht horchen und staunen über das Pulsieren des heranwachsenden Lebens? Es wurde ein Umstandskleid getragen! Warum nicht ohne Umstände ein Schwangerschaftskleid? Bei der Heimlichtuerei dringt keine innere Wärme nach außen. Ja nicht auf den Zustand aufmerksam machen, das war damals die Devise! Das ist heute vorbei. Stolz kann heute eine Frau ihre Wölbung zeigen, muss den Umstand nicht verbergen und muss dem schon vorhandenen Sprössling nichts vom Storch erzählen.