6.12.2017 - aktuelle Autorin - Anne Zegelman

Drei Frauen, drei Generationen einer Familie - Anne Zegelman erzählt in ihrem Roman "glueckskind" die durch Liebe und Tod verknüpften Geschichten von Martha, deren Tochter Tessa und der Enkelin Marie. Von der Nachkriegszeit bis heute, zwischen Deutschland, Indien und Amerika: Wird es Marie gelingen, aus dem Schatten ihrer Mutter und Großmutter zu treten und ihren eigenen Weg zu finden?
 
Anne Zegelman ist Journalistin und lebt im Rhein-Main-Gebiet. Sie hat bereits einige Literaturpreise gewonnen, darunter den Hildesheimer Lyrikpreis 2012 und das Junge Literaturforum des Hessischen Ministeriums für Wissenschaft und Kunst 2006.

Mehr unter www.anne-zegelman.de

 

Im Geest-Verlag erschienen:

Anne Zegelman

glueckskind

Geest-Verlag 2017

ISBN 978-3-86685-629-5

202 Seiten

12 Euro

daraus den Beginn:

Die Geschichte deiner Familie begann mit einem Missverständnis. An einem Sommertag des Jahres 1951 hisste mein Großvater die falsche Flagge. Hätte er das nicht getan, wäre wohl alles ganz anders gekommen.
Es war Fronleichnam, doch das wusste mein junger Großvater nicht. Er starrte aus dem Fenster, sein Kopf war leer, sein Herz voll und sein Blick verschwamm irgendwo zwischen dem Fensterbrett und dem Straßenpflaster. Plötzlich jedoch hörte er Musik. Von unten zog scharfe, würzige Luft herauf und stach ihm in die Augen, sodass er die Lider schloss und sie tief einatmete, diese Fremde. Als er sie wieder öffnete, sah er eine Gruppe Menschen die Straße entlangkommen.
Männer im dicken dunklen Sonntagsanzug, denen der Schweiß die Hemdkrägen gelb ränderte. Frauen, denen die kratzigen Kleider auf der feuchten Haut scheuerten und unter deren Achseln sich der graue Wollstoff dunkel vollgetrunken hatte.
Der Pfarrer ging vorneweg, er trug die goldene Monstranz hoch erhoben, den Blick abwechselnd gen Himmel und auf seine Füße gerichtet, über die sein Gewand lang herunterhing. Auf jeder Seite neben ihm marschierten je zwei Kirchendiener im schwarzen Anzug, die den Baldachin tru-gen. Ein reich besticktes, golddurchwirktes Dach für das Allerheiligste. Flankiert wurden die Träger von zahlreichen Messdienern in schwarzen und roten Gewändern, die die Weihrauchbehälter schwangen, dass es nur so schepperte. Bei jedem Schritt teilten sich die Kutten und gaben den Blick frei auf ordentlich polierte Sonntagsschuhe und die Hosenbeine des guten Anzugs.
Die Prozession dauerte gut zwei Stunden. Weil der Ort so klein war, kam sie mehrmals am Haus meines Großvaters vorbei, und jedes Mal betrachtete er die ernsten, verschwitz-ten Gesichter mit den roten Wangen und musste lachen. Außer diesem leisen Lachen waren nur die Gesänge und das gleichmäßige Schreiten der Gemeinde auf dem harten Asphalt zu hören, das einer Armee glich. Und doch bildete er sich ein, er könne das Scheuern der Sonntagskleidung auf der Haut hören, und das stumme Seufzen.
Selbst mein junger Großvater spürte, dass da etwas Heiliges vor sich ging. Die, die schon immer im Ort gewohnt hatten, wussten damit umzugehen. Fast jede Familie hatte einen Tisch hinausgetragen und ihn auf dem Fußweg vor dem Haus aufgestellt. Darauf türmte sich alles, was den Segen dringend nötig hatte: Marienstatuen, Heiligenbildchen, Fotos kranker Menschen und missratener Bauprojekte. Einige hatten die Alten, Lahmen und Kranken gleich selbst hinausgebracht. In einen Sessel versunken verfolgten sie die Prozession und fächelten sich mit ihrem Gebetbuch Luft zu.