7.12.2017 - aktuelle Autorin - Christine Korte

Christine Korte lebt und arbeitet in Ostfriesland. In den letzten Jahren hat sie Gedichte und Kurzgeschichten veröffentlicht. Seit 2011 ist sie Mitglied im Freien Deutschen Autorenver­band. „Tannenzwei“ ist ihr erster Roman.
 www.christinekorte.de

Im Geest-Verlag erscheint in Kürze

Christine Korte

Tannenzwei

Roman

Geest-Verlag 2017

ISBN 978-3-86685-621-9
320 S., 12,80 Euro

http://geest-verlag.de/shop/korte-christine-tannenzwei-roman

Daraus einen kleinen Ausschnitt:

 

Ich war wieder allein. Meine Freundin aus Frankfurt hatte ich nach munteren gemeinsamen Tagen zum Bahnhof gebracht. Die beschwingte Sommerlaune ließ mich, einem spontanen Impuls folgend, ziellos durch die Fußgängerzone schlendern. Menschen räkelten sich auf Plätzen, hielten ihre schnitzelbraunen Gesichter erbarmungslos in die Sonne und schlürften mit etwas, das sie für Lifestyle hielten, in Eisdielen die kompliziertesten Kaffee-Kreationen. Fischbrötchen liefen an mir vorbei, und alles in allem war Sommer. Ein einsamer Straßenmusikant schenkte seinem Saxophon eine Idee von Ewigkeit, indem er den einen oder anderen Charlie Parker durch die flirrende Luft zittern ließ. All the things you are ...
Auf einem Mauervorsprung setzte ich mich, um den Moment zu atmen. Menschen zogen an mir vorbei, manche Jungen schnell und laut und schnatterhaft, manche Alten schwer und müde. All the things you are. Als der Saxophonist pausierte, erhob sich magerer Applaus. Gerade beschloss ich, dem Mann später etwas in seinen Kasten zu werfen, als mein Blick im Vorüberschweifen an ihm hängen blieb. Es musste ein Irrtum sein. Nicht hier. Unmöglich. Er lebte doch jetzt schon seit Jahren in … wie hieß das Kaff noch mal? Und doch – es war Jochen.
Er spielte jetzt Anthropology, ein schnelles Stück, das seine volle Konzentration erforderte. Ich wagte einen genaueren, einen längeren Blick. Dünn sah er aus. Klappriger als schlank irgendwie – und er steckte in zu großen Klamotten, die außerdem eines Bügeleisens dringend bedurft hätten.
Er spielte famos. Das war immer so gewesen. Zu unserer Examensfeier hatte er mit einigen anderen der Musiker ein kleines festliches Musikprogramm zusammengestellt, das die Zeugnisverleihung würdig gerahmt hatte. Soweit ich das einschätzen konnte, verstand er etwas davon. Aber warum sollte er an einem warmen Sommertag ausgerechnet in Essen in der Fußgängerzone stehen und Charlie Parker spielen?
Sollte ich mich bemerkbar machen? Ein Wiedersehen wäre schön. – Ja? Wirklich? Wäre es das? Ich war mir plötzlich nicht mehr sicher. Wie lange war das her? Jochen und ich hatten uns niemals wiedergesehen, nachdem unsere Wege sich getrennt hatten. Zwar schickten wir uns in schöner Regelmäßigkeit jedes Jahr gegenseitig unsere Weihnachtsrundbriefe, aber darin erschöpfte sich unser Kontakt. Immer mal wieder schrieben wir handschriftlich zu unseren Grüßen die herzliche Einladung, einander zu besuchen, aber das passierte nie.
Wir hatten noch nicht einmal telefoniert. Nicht ein einziges Mal.
Und nun stand Jochen keine hundert Meter von mir entfernt, spielte wunderbar Saxophon, und ich ging keinen Schritt näher. Warum? Nun, ich war keine neunundzwanzig mehr. Die Jahre hatten ihre Spuren an mir hinterlassen. Wollte ich ihm als die junge dynamische Frau in Erinnerung bleiben, als die ich ihm an meinem Examenstag um den Hals gefallen war? Schnickschnack, es war schließlich keine Schande, einundfünfzig zu sein. Aber was war es dann? Fremd kam er mir vor. Irgendwie fremd und doch auch vertraut.