Thomas Welte - Yannick (ein Hör- und Leseausschnitt)

Hördatei: 

Thomas Welte

Yannick

 

Prolog

Wenn ich es mir genau überlege, war
Yannick immer der Mutigere von uns beiden. Dabei fand ich sein Ver­halten am
Anfang arrogant, angeberisch, einfach ät­zend. Meine Mutter fand das auch. Und
trotzdem bin ich immer wieder zu ihm hinübergegangen. Mutter schüttelte dann
den Kopf und fragte mich, warum ich das mache. Ich wäre doch auf Yannick gar
nicht ange­wiesen. Schließlich gäbe es noch andere Jungs in mei­nem Alter in der Nachbarschaft, mit denen ich etwas
unternehmen könnte. Und sie schlug mir dann eine ganze Reihe von Jungen zur
Freundschaft vor und beschrieb im Einzelnen deren ungeheure Vorteile. Na ja,
deren Hauptvorteile lagen wohl darin, dass sie meiner Mutter besser passten.
Ich überlegte wäh­rend ihres Vortrags, warum es mich trotzdem immer wieder zu
Yannick zog. Vielleicht war es die umfangreiche Comicsammlung, die mich fast
jeden Nachmittag zu ihm trieb. Vielleicht waren es auch die Filme, die wir bei
ihm anschauten, wenn seine Eltern nicht da waren. Möglicherweise war es aber
auch nur die Langeweile, die man als Junge spürt, wenn man in eine neue
Wohn­gegend zieht.

Damals konnte ich es noch nicht richtig einordnen. Aber
heute, acht Jahre später, glaube ich, den wahren Grund zu kennen. Je öfter ich
Yannick besuchte, desto vertrau­ter wurde er mir. Arrogant war er nur, wenn er
mit Freun­den unterwegs war. Oder in der Schule. Dann zeigte er allen sein
neues Computerspiel, erzählte, wie teuer es war und wie viel Geschick es bedürfe,
um das nächste Level zu erreichen. Er selber habe schon am zweiten Tag die
vierte Stufe erreicht (was ich ihm bis heute nicht abnehme!). Oder er prahlte
mit den neuen Autogramm­karten des VfB Stuttgart, die ihm sein Vater besorgt
hatte. Sehen durften sie alle, aber anfassen war streng verboten. So war
Yannick in der Schule. Und so war er, wenn
Freunde da waren.

Aber wenn wir in seinem Zimmer saßen, allein, war Yannick
wie verändert. Dann war er nicht der Angeber, wie ihn viele kannten. Dann
konnte er teilen. Dann lieh er mir über Nacht sein Computerspiel oder schenkte
mir die eine oder andere Autogrammkarte von Spielern des VfB. Natürlich musste
ich seine großzügige Geste für mich behalten. Schließlich wollte er nicht, dass
Klassen­kameraden ihn ständig um einen ähnlichen Gefallen an-betteln würden.
Ich habe es ihm versprochen. Und das Versprechen habe ich bis heute gehalten.

Mein Blick
schweift ab. Schweift ab nach oben. Weg von dem Punkt, den ich so lange fixiert
hatte. Der Himmel ist wolkenverhangen. Grau. Leer. In der Wettervorhersage
hatten sie ein Tief vorhergesagt - stürmische Winde und heftiger Regen bis
einschließlich Mittwoch. Meine kalten Hände gleiten noch tiefer in die Taschen
meiner Jacke. Mittwoch. Am Mittwoch war Mathe. Aber bis dahin war noch Zeit.
Unwillkürlich senkt sich mein Kopf und meine Augen starren wieder wie gebannt
auf diesen magischen Punkt ...

*

In den nächsten Monaten wurde nicht nur die Freund­schaft
zwischen Yannick und mir intensiver, sondern auch die unserer Eltern. Meine
Mutter hatte inzwischen die Ablehnung
gegenüber Yannick aufgegeben und freute sich aufrichtig, wenn er mich besuchte.
Sie lud ihn auch immer wieder zum Mittagessen ein, wenn seine Mutter beim
Einkaufen war. Yannick nahm die Einla­dungen im­mer dankend an und ließ es sich
dann auch ordentlich schmecken. Natürlich durfte er als Ehrengast immer an der
Stirnseite des Tisches sitzen, was er sichtlich genoss. Ich kenne bis heute
niemanden, der so viele Spaghetti auf einmal verdrücken konnte. Bei den ersten
drei Tellern konnte ich noch mithalten. Als Yan­nick dann aber noch­mals um
Nachschlag bat, musste ich mich geschlagen geben.

„Aus dir wird niemals ein guter Sportler", sagte er trium­phierend,
fast schon spöttisch. „Gute Fußballer müssen immer genügend Eiweiß und
Kohlenhydrate zu sich nehmen. Sonst sind sie während des Spiels schlapp und
müde."

Das hatte er zumindest mal gelesen. Und Yannick war ein
guter Fußballer. Schon damals. Er spielte seit sei­nem achten Lebensjahr im
Verein und schoss bei einem Spiel einmal neun Tore. Sein Ziel war es,
irgendwann beim VfB Stuttgart als Profi zu spielen. Und es gab viele, die ihm
den Sprung dorthin zutrauten. Ich lächelte, ent­gegnete darauf aber nichts.
Noch immer machten sich die vielen Spaghetti in meinem Bauch bemerkbar. Als
Yannick gegangen war, ging ich ins Bad und musste mich übergeben.

Im Sommer waren meine Eltern und ich oft zum Grillen bei
Perschkes eingeladen. Manchmal besorgte Yannicks Vater auch Eintrittskarten, sodass
wir uns ein Bundes­ligaspiel in Stuttgart anschauen konnten. Vor dem Spiel
wurde dann immer gewettet, wie das Spiel ausgehen würde. Wenn ich mit meiner
Vermutung richtig lag, wur­de Yannick so wütend, dass er oftmals zwei Tage
nicht mehr mit mir redete. Weder auf der Heimfahrt noch in der Schule. Dann
benahm er sich, als ob es mich nicht gäbe. Aber spätestens nach dem dritten Tag
war alles wieder vergessen und wir freuten uns auf
das kommen­de Spiel am Wochenende. Manchmal überlegte ich mir schon, ob ich
nicht bewusst gegen meine Meinung wet­ten würde, um mir das Hinterher zu
ersparen. Aber dann siegte doch mein eigener Fußballehrgeiz.

Zu seinem elften Geburtstag bekam Yannick ein neues
Fahrrad von seinen Eltern geschenkt. Ich erinnere mich noch genau an seinen
Gesichtsausdruck, als er uns das Rad präsentierte. Er führte uns in den Keller
und da stand es. Ein silbergraues Mountainbike, Leichtmetall­rahmen mit
21-Gang-Handschaltung und Scheibenbrem­sen. Natürlich wollten wir alle mal eine
Runde mit dem Rad drehen. Aber Yannick lehnte alle Bettelversuche ab. „Spinnt
ihr? Könnt ihr euch vorstellen, was das Moun­tainbike gekostet hat? Ihr seid so
doof und macht es mir kaputt."

Dann nahm er das Rad, schob
es durch die Garage, setzte sich drauf und fuhr damit die Straße rauf und
runter.

 

Buch: