23.11.2022 - aktueller autor - Olaf Bröcker  



Olaf Bröcker
geb. 1970 in Hamburg, aufgewachsen in Schleswig-Holstein. Studium der Germanistik, Geschichte und Pädagogik in Kiel. Seit 1999 Lehrer in Vechta, seit 2007 Leiter der Arbeitsgemeinschaft ‚Schreibwerk­statt‘.

Olaf Bröcker beschreibt Menschen, die eine Strecke des Lebens gehen – dieselbe Strecke, aber nicht immer gemeinsam. Deswegen umfassen seine Texte oft mehrere Perspektiven und, wenn die Strecke etwas länger ist, auch einige Zeitsprünge. Für viele seiner Figu­ren wird das Leben auf dem Weg farblos, grau  – für einige für immer, bei anderen nur ... streckenweise.

Mehr über Olaf Bröcker und sein Schreiben auf der Farbwechsel-für ein Nachdenken- Mediathek bei Youtube

https://www.youtube.com/watch?v=hr-4XR9JU20&t=352s(link is external)

Veröffentlichungen im Geest-Verlag Auswahl)




Bröcker, Olaf

 

 




Olaf Bröcker
geboren 1970, aufgewachsen in Schleswig-Holstein. 1989 Abitur, 1990-1997 Studium der Germanistik und Geschichte in Kiel. 1997 bis 1999 Referendariat in Wedel/Holstein. Seit 1999 Lehrer am Gymnasium Antonianum Vechta. Seit 2007 Leiter der Arbeitsgemeinschaft ‚Schreibwerkstatt‘, zahlreiche Veröffentlichungen als Autor und Herausgeber, in einer Vielzahl von Anthologien vertreten.


Auszug aus der block an der Bahn - Ein Roman über ds KZ Vechta

Olaf Bröcker

Der Block an der Bahn

Ein Roman

über das KZ Vechta

Geest-Verlag 2022

ISBN 978-3-86685-925-8

180 S. Klappbroschur

12,50 Eur

Vom Juli 1933 bis zum März 1935 existierte in Vechta eines der frühen Konzentrationslager des nationalsozialistischen Deutschland. Es diente - wie alle Konzentrationslager zu Beginn der Machtergreifung ­- der Inhaftierung politischer Gefangener aus dem hiesigen Raum. Als der politische Widerstand gegen das Nazi-Regime rasch gebrochen war, hatte es keine Funktion mehr und wurde aufgelöst.
Auf diesem historischen Hintergrund entwickelt Olaf Bröcker ein fiktives Romangeschehen um den stellvertre-tenden Anstaltsleiter Wilhelm Bramlage. Orte und Wege entsprechen den historischen Begebenheiten der Stadt Vechta in diesen Jahren.

 
 
 
Bramlage blieb ein wenig länger stehen als sonst, nachdem das Tor hinter ihm zugeschoben worden war. Er atmete tief durch und warf einen Blick auf den Bahnhof, der ihm gegenüberlag. Erst nach einigen Minuten setzte er sich in Bewegung und überquerte den Bahnübergang, wie üblich ohne nach rechts und links zu schauen. Um diese Zeit kam kein Zug, das wusste er.
Er ging weiter. Überrascht stellte er mit einem Blick nach rechts fest, dass die Fassade des Alten Gymna-siums bereits von den Bäumen verdeckt wurde. Er musste schneller gegangen sein, als er gedacht hatte. Ob das einen Grund hat, fragte er sich im Stillen, zö-gerte aber mit der Antwort. Erst als er links vor sich die Kirche auftauchen sah, gestand er es sich ein: Er wollte weg. Weg von seinem neuen Arbeitsplatz. Dem Block an der Bahn. Einem Arbeitsplatz, den er sich nicht gewünscht hatte. Wie auch, sagte er sich. Ich wusste ja nicht einmal, dass es ihn gibt.
Bramlage verzog das Gesicht, als er sich an den Nachmittag des Vortags erinnerte. Er war zum Direk-tor gerufen worden, was bisher erst zweimal geschehen war. An das erste Mal erinnerte er sich nicht besonders gern, auch jetzt verdrängte er den Gedanken zügig. Das zweite Mal war angenehmer gewesen. Sein 25-jähriges Dienstjubiläum. Der damalige Direk-tor hatte ihn in sein Büro gebeten, ihm die Hand ge-schüttelt, ihm für seinen treuen Dienst gedankt und ihm eine Flasche guten Cognac geschenkt. Das Gan-ze war beiden eher peinlich gewesen, aber der Cog-nac hatte gut geschmeckt. Zehn Jahre war das her. Mehr! Bramlage rechnete nach. Dreizehn Jahre, stell-te er fest. Und noch sieben bis zu seiner Pensionie-rung. Das klang besser.
Er hob die Hand, um einen Bekannten zu grüßen, der ihm entgegenkam. Hatte der ihn neugierig angese-hen? Verwundert, ihn hier zu sehen? Na, er würde sich daran gewöhnen müssen. Das war jetzt bis auf Weiteres sein Heimweg von der Arbeit. Bisher hatte er nur eine kurze Stichstraße entlanggehen müssen und war zu Hause gewesen. Jetzt musste er durch die ganze Stadt laufen.
Bramlage bog von der Langen Straße ab und ging an der Mädchenschule vorüber. Er lächelte grimmig, als er sich das Gesicht des Direktors vergegenwärtigte. Sein Vorgesetzter hatte ihn fassungslos angestarrt, als er den Posten rundheraus abgelehnt hatte. Trotz der beachtlichen Zulage. Der Direktor hatte doch tatsächlich geglaubt, ihm mit der Versetzung etwas Gutes zu tun.
„Was heißt das, Sie wollen nicht? Bramlage! Das ist doch eine echte Gelegenheit für Sie!“
„Ich weiß, Herr Direktor …“
„Ich dachte, ich tue Ihnen einen Gefallen!“
„Ich weiß, Herr Direktor, und ich bedanke mich auch gehorsamst für die …“
„Sie haben hier so lange still Ihren Dienst getan, da dachte ich, das wäre eine Belohnung für Ihre Treue und Ihre Loyalität!
„Vielen Dank, Herr Direktor!“
„Ja, und?“
„Herr Direktor, wenn Sie gestatten, würde ich lieber hier auf meinem alten Posten …“
„Bramlage, Sie bringen mich wirklich in Schwierigkei-ten!“
„Verzeihen Sie, Herr Direktor, aber …“
„Ich habe Ihren Namen doch schon weitergemeldet! Ich hätte doch niemals damit gerechnet, dass Sie ab-lehnen würden!“
„Herr Direktor …“
Sein Vorgesetzter hätte den Namen, den er nun schon einmal gemeldet hatte, niemals zurückgezo-gen, das wusste Bramlage genau, auch wenn er den Direktor kaum kannte. Aber wenn der große Herr zur Belegschaft sprach, vergaß er nie einzuflechten, wie sehr ihm das Ministerium in Oldenburg vertraute und ihm Rückhalt bot. Und so hatte Bramlage eingelenkt. Gezwungenermaßen.
„Wenn das so ist, Herr Direktor …“
„Sehen Sie, Bramlage, die Zulage ist doch auch nicht zu verachten. Sie wird etwa ein Drittel Ihres norma-len Gehalts ausmachen Und da Sie nie befördert worden sind, ist das doch eine schöne Sache für Sie!“

„Jawohl, Herr Direktor!“
Er war sogar zweimal befördert worden. Aber den Direktor verbesserte man nicht. Zumal er genau wusste, was sein Vorgesetzter gemeint hatte. Beide Beförderungen waren Regelbeförderungen gewesen, die eine nach der Anwärterzeit und die andere, die jeder bekam.
Bramlage hob unwillkürlich die Hand vor die Augen, als sich die untergehende Maisonne in den großen Fenstern des Lehrerseminars spiegelte und ihn blen-dete. Was für ein riesiger Klotz, dachte er wie jedes Mal, wenn er an dem zweiflügeligen Gebäude vorbei-kam. Er wendete sich nach rechts und hielt auf die Moorbachbrücke zu. Ein Blick auf seine altmodische Uhr, die er immer noch an der Kette in der Uhrenta-sche trug, sagte ihm, dass er offenbar wirklich sehr schnell gegangen war. Ja, die zweite Beförderung war so unwichtig gewesen, dass er sie durch einen Brief in seinem Postfach erfahren hatte. Er hatte sich, wenn er ehrlich zu sich war, schon gewundert. Alle anderen waren mit etwas über vierzig befördert wor-den, er musste bis zu seinem 48. Geburtstag warten. Aber dann war die Beförderung drei Jahre rückda-tiert gewesen. Hatte man ihn vergessen gehabt? Mit der Summe, die man ihm damals als Prämie ausge-zahlt hatte, hatte er nichts anfangen können. Es war eben 1923 gewesen. Hyperinflation.