Alfred Büngen - Corona hat auch stark gemacht (Vorwort zu 'So stark sind wir!'

Alfred Büngen
Corona hat auch stark gemacht

Gerne bin ich als Verleger im Jahre 2021 der Einladung der Kontakt- und Beratungsstelle Selbsthilfe des Landes-Caritasverbandes Oldenburg e. V. gefolgt, ein Buch über die Bedeutung der Selbsthilfe gerade in Coronazeiten zu schreiben. Aus einer Vielzahl an Schreib- und Buchprojekten – u. a. im Bereich der Krebs-Selbsthilfe, im Kinder- und Jugend-bereich, im Behindertenbereich etc. – hatte ich bis dahin die Erfahrung sammeln können, dass es von großem Wert ist, die Teilnehmer selbst zu Wort kommen zu lassen. Die Teilnehmerberichte ersetzen nicht die wissenschaftliche Analyse, sind aber wesentliche Basis dafür, das Schreiben hilft vor allem den einzelnen Teilnehmern und den Gruppen selbst als wichtige Reflexionsmöglichkeit. Ich bot daher an, auf Workshops oder auch bei Gruppenbesuchen und Einzelge-sprächen mit Teilnehmer*innen aus Selbsthilfegruppen zu schreiben.
Die Corona-Situation und daraus resultierende Kontaktbeschränkungen erschwerten im Laufe des letzten Jahres die Möglichkeiten des Schreibens mit Menschen aus Selbsthil-fegruppen erheblich, doch waren zwei Tagesworkshops und zahlreiche Besuche in Selbsthilfegruppen sowie mehrere Einzelgespräche dann irgendwann möglich. Alle Gespräche für mich selbst ein unglaublich wichtiges Erlebnis.
Besonders in Erinnerung bleibt mir die große Offenheit der Teilnehmer*innen – ich schätze, 90 % aller Beteiligten in den Gruppengesprächen waren weiblich – schon nach kurzer Zeit. Fast jede Teilnehmerin, jeder Teilnehmer in den Grup-pengesprächen erzählte oder schrieb sehr offen seine/ihre Geschichte auf dem Weg in die Selbsthilfe, gleich ob hörgeschädigt, an Diabetes erkrankt oder psychisch oder in anderer Form belastet. Noch größer und höher die Intensität des Sprechens auf den Tagesworkshops im Kloster Dinklage und im Jugendhof Vechta. Und jede der erzählten und geschrie-benen Geschichten wäre sicherlich ein eigenes Buch wert, würde eine Möglichkeit sein, als Beispiel Wege zur eigenen Hilfe zu finden. Leider standen diese Lebenswege nicht im Mittelpunkt dieses Buches, vielmehr ging es um das Erleben der Corona-Situation. Und doch steht beides in unmittelbarem Zusammenhang.
Aus den Wegen in die Selbsthilfegruppen, von denen die Teilnehmer*innen erzählten, wurde immer wieder deutlich, dass es zumeist der persönliche Kontakt zu dem einen oder anderen Gruppenmitglied oder zur Leitung war, der den Weg in die Gruppe bahnte. Nur ganz selten hatten Teilneh-mer*innen über Hinweise von Ärzten oder durch Pressearti-kel, Werbeschriften etc. zur Gruppe gefunden. Allein das verdeutlicht schon den hohen Grad der Bedeutung von privaten Kontakten in der Selbsthilfegruppe. Dies war letztlich auch die Rettung der Selbsthilfegruppen in der Pandemiesituation. Während die Gruppenaktivitäten in den Monaten von Corona weitgehend zum Erliegen kamen, blieben die Kontakte der Gruppenmitglieder untereinander über Telefon oder Videochat bestehen. Einige Gruppenleiter*innen intensivierten den Gruppenkontakt auch durch das Schreiben von individuellen Briefen, durch Anrufe usw. Dies war sehr wichtig für jedes einzelne Mitglied, konnte es doch so der Isolationssituation Corona entkommen, merkte, hier ist jemand, eine Gruppe, auf den oder die ich mich verlassen kann.
Zwar vermisste man die Aktivitäten der Gruppe – Informationsangebote, gesellige Aktivitäten –, fand aber Rückhalt in den privaten Kontakten. Nicht in allen Fällen gelang das, denn die Kontaktverbote zwangen in die technische Kom-munikation (Internet, Videochat). Viele Selbsthilfe-Akteure lernten diese technischen Möglichkeiten in dieser Zeit kennen und beherrschen. Viele, aber wirklich nicht alle, denn gerade ältere Teilnehmer*innen mussten Begleiter haben, die ihnen diese technischen Möglichkeiten bereitstellten und sie in die Nutzung einwiesen. Wo dies nicht der Fall war, gingen offensichtlich, so die Mitteilung aus vielen Gruppen, auch Teilnehmer der Gruppe verloren.
Die Erweiterung des technischen Wissens und der technischen Fähigkeiten bietet jedoch auch in der Nachcorona-Zeit für viele Gruppen eine gute Hilfestellung. Gerade ältere Mitglieder, die zum Teil die langen Anreisen zu den Grup-pentreffen nicht mehr leisten können, haben die Möglichkeit, weiter den Kontakt zur Gruppe zu halten. Viele Informationen können von der Leitung oder den Mitgliedern leichter weitergegeben werden.
Keinesfalls aber wird das Internet, der Videochat, den direk-ten Kontakt in der Selbsthilfegruppe ablösen, denn das menschliche Miteinander, der direkte Austausch, das gesellige und informative Miteinander können nicht ersetzt werden. Noch bilden die Vorsicht um die eigene Gesundheit und die der anderen noch eine gewisse Skepsis über das Miteinander aus. Aber erste gemeinsame Aktivitäten wie das Feiern eines 20-jährigen Jubiläums etc. zeigen auf: Die Selbsthilfegruppen sind stark. Die Corona-Monate haben zwar viele gemeinsame Vorhaben unmöglich gemacht, doch die Bedeutung der Gruppentreffen mit ihrem mensch-lichen und informativen Miteinander haben sie nicht zerstört. Der Bedarf danach ist bei den jetzigen und sicherlich auch zukünftigen Mitgliedern sehr hoch.
Vielleicht noch ein Wort dazu, dass einige Teilnehmer*innen ihre Texte anonym, unter Kürzeln oder und an-deren Namen veröffentlichen. Diese Zusicherung habe ich allen Schreibenden gegeben, sodass sie ihre Wirklichkeiten ohne Scheu schreiben konnten.
Abschließend darf ich noch erwähnen, dass wir bewusst auf eine wissenschaftlich systematische Ordnung des Buches zugunsten einer leichteren Anordnung der Textbeiträge verzichtet haben, da die Unterschiedlichkeit der Themen und Textinhalte in der nun vorliegenden Reihung eine inte-ressantere Lesbarkeit bietet.
In diesem Sinne lassen Sie sich vom Mut und von der tiefen Emotionalität der Autor*innen anstecken.


aus:






 

 

 

 

So stark sind wir! Teilnehmende aus Selbsthilfegruppen schreiben über sich und ihre Gruppen in Corona-Zeiten

  Ein Schreib- und Buchprojekt der Kontakt- und Beratungsstelle Selbsthilfe des Landes-Caritasverbandes Oldenburg e.V. und dem Geest-Verlag.

Mit einem Grußwort des Niedersächsischen Ministerpäsidenten Stefan Weil

Herausgeber:Kontakt- und Beratungsstelle Selbsthilfe des Landes-Caritasverbandes Oldenburg e.V.

Projektkoordinatoren: Kerstin  Willenbrink und Alfred Büngen

Geest-Verlag 2022

ISBN 978-3-86685-902-9

Klappbroschur, ca. 190 S., 12, 50 Euro

 Zielsetzung des Projekts ‚So stark sind wir!‘ war und ist es, Teilnehmende aus Selbsthilfegruppen dazu zu bewegen, die Be-deutung ihrer Gruppen für sich zu beschreiben, war doch das Gruppenleben durch Corona, den Lockdown oder Teilnahme-beschränkungen weitgehend zum Erliegen gekommen. Was blieb den Teilnehmenden an Möglichkeiten, den wichtigen direkten Kontakt von regelmäßigen Treffen zu ersetzen? Oder suchten sie gar nicht nach Alternativen?
Die Kontakt- und Beratungsstelle Selbsthilfe des Landes-Caritasverbands für Oldenburg e. V. rief die Teilnehmenden der Selbsthilfegruppen auf, ihre Erlebnisse und Gefühle in dieser Zeit aufzuschreiben oder an Workshops teilzunehmen, in denen gemeinsam geschrieben werden konnte. Verlagsleiter Alfred Büngen besuchte zudem verschiedene Gruppen und unterhielt sich mit den Mitgliedern über ihre Wege in die Selbsthilfe und ihr Erleben in den Pandemiejahren, auch über ihre Hoffnungen für die Zeit danach. Würden Gruppen nicht mehr stattfinden, würde das technische das direkte Miteinander ersetzen?
Der Niedersächsische Ministerpräsident Stephan Weil fungierte als Schirmherr für das Projekt, schrieb wie auch Offizial Weihbischof Wilfried Theising ein Vorwort für das Buch.
Mögen die Texte dazu beitragen, den Selbsthilfegruppen den Weg in eine Normalität zu erleichtern, ist ihre Arbeit doch durch nichts zu ersetzen.