Ausschnitt aus Nicoleta Craita Ten'o - Das Kind in der Mülltüte

Das Erste, was ich im Blickfeld aufnahm, als ich das enge Zimmer der Klinik betrat, war das blumenbe-druckte Kleid meiner Mutter. Was waren das für Blumen? Ich schätzte Rosen, Stockrosen in Beige, Bordeaux und Grün. Sie hielt liebevoll die Hand meines Bruders, während sie sich leise mit ihm unterhielt. Auf der anderen Seite des Bettes war Karmen, Simeons Gattin, zu sehen. Neben ihr stand ihr Bruder Christoff. Mein Vater war nicht im Raum. Sie drehten sich alle zu mir. Simeon winkte schmunzelnd schuldbewusst mit dem bandagierten linken Arm. Er hatte ein blau werdendes Auge und eine Beule in der Größe einer Nuss rechts auf der Stirn. Der Blick meiner Mutter verweilte nicht lange auf mir. Karmen und Christoff erwiderten meine kaum hörbare Begrüßung.
„Du kommst nicht gerade zügig, Junge!“, bemerkte meine Mutter, ohne sich umzudrehen.
„Lass ihn, Mama!“, ergriff mein Bruder Partei. „Mir geht es gut, er hat auch ein eigenes Leben.“
Ich hörte seine nett gemeinten, zuvorkommenden Worte und wollte in das Granit der Wand beißen. Ich wollte aus dem Fenster springen.
„Wäre er verunglückt“, erwiderte Mutter, „hättest du auch den halben Tag gebraucht, um ihn besuchen zu kommen?“
Simeon lachte heiser auf. „Mama!“
Eine Verblendung in Form von aussteigenden Ameisenkolonien, kribbeligem Gefühl, Strom in den geballten Fäusten, Kotze im Gaumen und Atemverkrampfung ergriff die Macht über mich. Ich schwor mir, sofort das Zimmer zu verlassen, stand aber nur da und zählte die Striche der Bodenmusterung. Ich hörte nicht mehr zu, wodurch ich mich selbst schützte. Ich bemerkte die Regenflecken auf mei-nen hellbraunen Wildlederschuhen und erinnerte mich an Wiebke, die mir heute Morgen den Vorschlag gemacht hatte, später Eis essen zu gehen. Ich schmeckte den aromatischen Duft des Kirscheises im Mund. Meine Geschmacksknospen öffneten sich. Ich streckte mich in die Länge, ließ den Kopf mit geschlossenen Augen nach hinten fallen und atmete ein. Ja, es tat gut. Ich war mit beiden Beinen auf dem Boden.