Daniel Mylow - In einem andren Land (Antrassismusaktion - 'Vor allem anderen bin ich Mensch')

In einem anderen Land


In der Nacht nach Romans Tod legt sie sich in den Ufersand des Neckars. Valerie hört den Atem der Wellen und den Wind in den Gräsern. Die Sterne stehen wie zerbrochene Silben am Himmel. Sie streckt ihre Hände danach aus. Land und Himmel verlieren sich in einem Flüstern. Sie hört Stimmen, die näher kommen. Sie finden dich, sie finden dich, schlägt ihr Herz. Die Menge wird hörbar. Die Stille um sie herum tönt von ihren Rufen. Unbewegt bleibt sie liegen. Die Wellen schwappen an ihre Füße. Wenn das Wasser ein Gedächtnis hat,  denkt sie, dann wird der Fluss sich eines Tages lange nach diesem August des Jahres 1970 an sie erinnern, wenn sie nicht mehr da ist.

Roman war ihr Nachbar. Klein und gedrungen war er. Hatte breite, vernarbte Hände, ein Gesicht wie die Gestalt des Landes aus dem er stammte und Augen so tief wie das Schwarze Meer. Als Valerie glaubte, ihm das erste Mal begegnet zu sein, tauchte das Lichts den Flur und das Treppenhaus, sein Gesicht und ihre beiden Gestalten in eine wie aus großer Ferne rührende Blässe. Sie sahen sich an.
„ Ich kenne Sie doch irgendwo her“, sagte sie.
„Wir sind Nachbarn“, antwortete er.
„Nachbarn... Seit wann?“
„Seit wann. Seit mehr als zehn Jahren, Valerie.“


In jenem Sommer lag die Erde still und rissig da.. Valerie sah am Himmel die vom Wind durchleuchteten Schatten der Wolken ziehen.
Zum ersten Mal betrat sie Romans Wohnung. Die Tür hatte aufgestanden. An den Wänden hingen Bleistiftzeichnungen  von  Blumen  und  Tieren. Solche Zeichnungen hatte sie noch nirgendwo gesehen.  Eine Lanze aus weichem Licht verharrte im Raum.  Alles schimmerte. In den Schränken standen Bücher in einer fremden Sprache. Neben der Tür zur Küche hingen alte Fotografien. Eine Frau sah sie an Im Lächeln ihrer Augen fand sie etwas wie ein Echo. So, als sähe sie in einen Spiegel. Sie nahm sich ihren Blick. Es schien ganz leicht, jemand anderer zu sein. Bis zum Mittag lehnte sie am Fenster und kaute ihr dunkles Haar. Sie starrte in die Wolken. Roman saß an der anderen Straßenseite auf einer Kiste und sah zu ihr herauf. Es hatte zu regnen begonnen.
Sie ging ihm aus dem Weg. Valerie vergaß seine Wohnung, vergaß Roman, weil es nichts gab, an das sie sich lange erinnern konnte.
 Vor zehn Jahren hatte sie bei einem Autounfall zwei Stunden inmitten ihrer toten Eltern eingeklemmt im Wrack eines Autos gelegen. Ihr Gedächtnis, es wollte seitdem nicht mehr so richtig funktionieren.
 Wenn sie Roman begegnete, sah er sie so an, dass es unmöglich war, seinen Blick nicht zu erwidern. Ihre Großeltern, bei denen sie lebte, warnten Valerie vor ihm. Die Nachbarn erzählten sich, dass er unter falschem Namen hier lebte, weil er früher kleine Mädchen in seine Wohnung gelockt haben sollte. Er sei ein Zigeuner, tuschelten sie hinter vorgehaltener Hand. Einer von dem man nur wusste, dass er aus Rumänien, aus dem Banat kam und zu schlechtes Deutsch sprach, als dass man ihm vertrauen könnte. Er war kein Nachbar. Nachbarn, das waren Leute von denen man mehr wusste als von einem selbst. Nachbarn waren Menschen, so hatten die Großeltern Valerie beigebracht, denen man vertrauen konnte. Nachbarn sind unser Gedächtnis, wenn wir alt werden. Aber einer wie Roman war ein Fremder. Den hatte der Wind und die Launen des Zufalls hierher gebracht. So wie der Zufall ihre Vorfahren aus Schwaben im achtzehnten und neunzehnten Jahrhundert einst in den Banat gebracht hatte. So wie die Schweizer, die Hugenotten und die Waldenser nach dem Dreißigjährigen Krieg und Flüchtlinge und Vertriebene nach dem Zweiten Weltkrieg  nach Schwaben gekommen waren. Nach ein paar Generationen waren dann alle Schwaben, ganz gleich, woher sie gekommen waren. Aber das hatten die Leute hier längst vergessen.
Valerie hatte das Gefühl, als seien sie und Roman sich schon vor langer Zeit begegnet. In manchen Augenblicken, die sich wie Flugasche über ihr Gedächtnis legten, erschien es ihr, als sei Roman nur gekommen, um sie von hier fortzubringen. Jemand  erzählte ihr, er habe, nachdem er aus Rumänien nach Deutschland gekommen sei, anfangs am Fließband in der Autofabrik auf der anderen Seite des Flusses gearbeitet. Als seine Frau eines Tages vor zehn Jahren bei einem Autounfall starb, hatte  er am nächsten Tag aufgehört zu arbeiten. Wenn er Geld brauchte, verdingte er sich als Handwerker auf Wanderschaft. Oft verschwand er für viele Wochen. Niemand wusste, ob die Geschichte stimmte.  
Valerie arbeitete in der Konservenfabrik flussaufwärts. Sie hatte eine Arbeit gefunden, für die sie kein Gedächtnis brauchte. Mit dem Fahrrad fuhr sie jeden Tag am Neckar entlang. Sie  sog den Wind ein. Mit den schwarzen Vögeln zog er über den Fluss und in ein anderes Land. Die Menschen auf der anderen Seite des Flusses waren ihr fremd. Es waren Zugewanderte, sagte man. So fremd wie Roman. Was wissen wir schon von unserem Gegenüber, als das was auf Vermutungen und Halbwahrheiten beruht.
Valerie fuhr schneller, immer schneller.
Als sie an diesem Augusttag nach Hause kam, stand Roman vor dem Haus. Es schien, als wolle er ihr etwas sagen. Doch er stand nur schweigend da. Mit einer Bewegung seines Kopfes lud er sie ein, ihm zu folgen. Sie ging ihm nach in die Wohnung. Der Raum war voller kleiner Schatten. Unter ihrer offenen Bluse ließ sie ihn die weiche, halbrunde Andeutung einer Brust sehen. Er konnte ihre Haare riechen.  Ihre Haut. Den feuchten Schweiß zwischen ihren Brüsten. Valerie sah ihn an. Sie sah ihn an so wie die Frau auf der Fotografie in der Küche jemanden ansah. So wie sie Roman angesehen hatte. Roman wandte den Kopf. Er hielt ihren Blick nicht aus. Als die Schatten im Zimmer noch kleiner wurden, legten sie sich, einander festhaltend, ins Bett. Sie fror. Er legte seine Arme um sie. Tausend leise Stimmen flüsterten in ihrem Kopf. Ihre Körper waren  wandernde Schatten vor dem Abendhimmel in den regenglänzenden Fenstern. Ihr Körper hob sich in seinen Armen empor, verrutschte und sank mit der Dunkelheit langsam in einen Raum zurück, in dem das Licht mit dem Weiß der Erinnerung verflimmerte, in dem man nicht mehr wusste, wen man in den Armen hielt, einen Fremden oder sich selbst.
Am Abend ging sie zurück. Sie brauchte nur die Tür auf der anderen Seite des Flures zu erreichen. Doch ihr war zumute, als hätte sie irgendwo in dieser Nacht die Linie des Horizonts überschritten.  Es wird anders, dachte sie. Ihr Mund schmeckte nach Roman. Während sie in ihrem Bett lag, versuchte sie sich vorzustellen, was er gerade sah.
Sie hörte die Wohnungstür auf der anderen Seite des Flurs ins Schloss fallen. Romans schwere Schritte entfernten sich. Sie konnte ihn nicht sehen. Sie hörte ihn nur. Er lief den ganzen Weg zur Fabrik. Dort stand ihr Fahrrad. Jemand hatte die Reifen zerstochen. Als sie ihm das sagte, hatte er nur unmerklich genickt. Viel später erzählten ihr die Großeltern, was alle wussten, aber worüber niemand sprach. Sie wussten ja, dass Valerie stets vergaß, was man ihr erzählte. Die Nachricht von Valeries Verschwinden hatte sich rasch im Dorf verbreitet. In kleinen Gruppen  suchten sie nach der jungen Frau.
 Auf der Hauptstraße, am Ortsausgang, trafen sie auf Roman. Eine Gruppe von zehn, zwölf Bürgern stand ihm schweigend gegenüber. Sie hatten im Wirtshaus zusammen gesessen, als die Nachricht von Valeries Verschwinden kam. Einer erkannte ihr Fahrrad. Sie stellten Roman Fragen. Aber er war keiner, der gut auf Fragen antworten konnte. Er sagte lieber gar nichts. Den Männern reichte das. Es ist ja nicht das erste Mädchen, sagte einer. Roman wich zurück. Die Männer schweigend und entschlossen hinter ihm her. Niemand wollte das. Es geschah einfach.  Der  Lichtkegel  eines  Autos  tastete  über  die  Gruppe. Noch lange sah Roman dem Licht hinterher. Als verspräche es irgendwo in der Schwärze des Himmels einen Ausgang. An der Kaimauer  kann er nicht weiter. Vor ihm liegt das schwarze Band des Neckars. Auf der anderen Seite ein anderes fremdes Land, das sie auch Schwaben nennen und wo sich sprachlos Dorf an Dorf  reiht. Fahle Lichter starren in die Nacht.
„Sag schon was“, fordert einer. Aber er sagt nichts.  Es geschieht einfach. Sein Schritt greift ins Leere, sein Körper schlägt im Fallen an die Reling einer der Zillen, der Museumsboote, die hier vor Anker liegen.  Niemand hilft ihm. Sie sehen zu, wie sein Körper im Wasser davon treibt. Sie rufen. So wie ihre Vorfahren gerufen haben, wenn sie am Neckar ihren Fang nach Hause gebracht haben.
 Valerie kann sich das alles vorstellen, als wäre sie dabei gewesen. Und sie sieht sich in dem Wrack des Autos liegen. Reglos und mit verkrümmten Gliedern. Jemand legt sie in das Gras. Zwei Feuerwehrleute decken ein weißes Tuch über den Körper einer Frau. Sie sieht auf ihre Hände wie auf etwas unendlich Fremdes. Und Roman liegt in diesem Augenblick auf einer Bahre. Er atmet. Er atmet doch. Und dann bringen sie ihn fort, und er wird ihr immer fremder, immer und immer fremder in all diesen Momenten, die sie das Leben nennen.
 Valerie fühlt, wie sein Herz schlägt in dieser Minute in ihrer Brust. Wie es ihr Gedächtnis zum Schlagen bringt. Als hätten sie immerzu Seite an Seite gelebt. Wenn sie morgen erwacht, dann wird Roman tot sein. Im ersten Licht des Tages wird sie vor ihrem Bild im Spiegel wie ein Wasserläufer in das eigene Spiegelbild tauchen. Niemand mehr wird sie finden.
Sie liegt im Ufersand des Flusses. Valerie denkt an Roman, bevor das Weiß einer anderen Erinnerung wie ein Luftzug durch ihren Körper  geht.