Geht in die lektorale Arbeit: Volker Issmer: Geschichten vom Fluss / Hasegschichten

Geschichten vom Fluss/Hasegeschichten

Einleitung

Sie ist genau 169, 06 km lang, laut Wikipedia. Die Hunte hat nach dieser Quelle – auch das  ein Wort aus dem Wasserbereich, wie so viele in unserer Sprache! – mehr an Länge als sie aufzuweisen, nämlich genau 19, 04 km, ganz zu schweigen von Elbe, Weser und Ems, die unser Bundesland durchfließen und wegen ihrer Größe die Zusatzbezeichnung „Strom“ tragen dürfen.
Die Landschaft, durch die sie fließt, ist wenig dramatisch. Sie entspringt am Nordhang des Teutoburger Waldes, eines Mittelgebirges. Sie passiert später ein weiteres, das Wiehengebirge, und schlängelt sich dann, so weit sie nicht begradigt worden ist, durch manchmal hügeliges, meist aber flaches Gelände mit wenig Gefälle, so dass die Fließgeschwindigkeit eher gering ist und die Neigung ausgeprägt, sich zu verzweigen. An den Ufern liegen abgesehen von der Stadt Osnabrück keine größeren Orte, keine Kulturdenkmäler von euroäischem oder gar globalem Rang, sieht man einmal ab von den Zeugnissen der Megalithkultur, die sich aber ebenso oder noch monumentaler auch in den Nachbarkreisen finden. Die Fläche ist im Wesentlichen landwirtschaftlich geprägt, während vom Großen Moor, das einst weite Strecken auch des Osnabrücker Nordlands einnahm, nur noch wenige Reste erhalten sind.
Mittelmaß also, wohin man blickt. Warum dann Geschichten über die Hase?
Als Ruheständler habe ich die Zeit, viel mit dem Rad über Land zu fahren. Vor einiger Zeit  überquerte ich am Stadtrand von Osnabrück, ganz in der Nähe von meinem Zuhause, einen Bach auf einer Brücke, über die ich schon oft gefahren bin. Diesmal stieg ich ab, stellte mich ans Geländer, schaute aufs Wasser und überlegte: Wohin fließt es eigentlich? In den Goldbach oder in die Düte? Beide haben ihren Lauf in der Nähe, beides erschien möglich. Dabei ist der Goldbach ein Nebenfluss der Düte, die ihrerseits in die Hase mündet.
Und zweierlei wurde mir in diesem Moment deutlich – wie wenig ich doch über die vielen kleineren Wasserläufe weiß, denen ich auf meinen Wegen begegne, und dass ihr Wasser, auch wenn es unterschiedliche Namen trägt, letztlich zum Wasser der Hase gehört. Dass diese Bezeichnung nicht nur für den einen Fluss Geltung hat, sondern auch für die Gewässer, die ihm zufließen und ihn bilden.
Es gibt also ein Netzwerk Hase, dessen Linien den Raum gliedern, in dem ich den größten Teil meines Lebens verbracht habe und noch verbringe, wo ich zu Hause bin. Und über den ich mich auch definiere, der mein Lebensgefühl bis heute mitbestimmt.
Aufgewachsen bin ich in Kloster Oesede; die Düte, der Schlochterbach und der Mühlenteich gehören zur frühen Kindheit. Als Schüler bin ich auf dem Weg vom Bahnhof zu meiner Schule, dem Ratsgymnasium, und zurück fast täglich über die Hase gekommen und habe auch erlebt, wie sie später durch Überbauung aus verkehrstechnischen und kommerziellen Gründen über weite Strecken im Untergrund verschwand – ein Schicksal, das die meisten der Bäche, die es auf dem Stadtgebiet gab und gibt, schon früher ereilt hat, so dass nur noch Straßennamen an sie erinnern. Gut, dass diese Freveltat wenigstens für die Hase mit Fertigstellung des Uferwegs inzwischen revidiert worden ist, weitgehend jedenfalls. Nachdem ich meine spätere Frau kennen gelernt hatte, erkundeten wir zuerst mit dem Auto, dann mit dem Fahrrad das Osnabrücker Land und stießen dabei auf alte Kirchen, Klöster und Herrensitze, stattliche Bauernhöfe und die Spur von Künstlern, aber auch die Erinnerung an Unrecht, Krieg und Gewalt. Wir folgten dem Lauf der Hase, so weit das damals möglich war. Inzwischen ist durch die Hase-Ems-Tour auch hier die weitere Erschließung erfolgt und für die Anhänger des „sanften Tourismus“ eine deutliche Verbesserung eingetreten.
Auf der anderen Seite stehen die Schäden, die durch Bebauung, Regulierungsmaßnahmen und vor allem durch Intensivierung der Landwirtschaft angerichtet worden sind – ich erinnere nur an die öffentliche Diskussion zur Frage der Breite von Gewässerrandschutzstreifen, die noch immer nicht abgeschlossen ist.
Der Haseraum ist etwas ganz Besonderes, Unverwechselbares -  sicherlich nicht für mich allein, sondern für die meisten seiner Bewohner. Er steckt voller Erinnerungen und Geschichten, teils persönlicher Art, teils weit darüber hinausgehend, denn es ist ein uralter Kulturraum, vor dessen Hintergrund sie spielen. Einige dieser Geschichten, wie ich meine Texte nennen möchte, habe ich niederzuschreiben versucht, wobei keinerlei Anspruch auf Vollständigkeit erhoben werden kann. Wie sollte das auch möglich sein? Jeder Ort, den es hier gibt, hat seine eigenen Geschichten, und ebenso jeder Mensch, der hier lebt.  Und zu diesen Geschichten kommen täglich neue hinzu. Ein ständiger Fluss, der nicht abreißt und den sich niemand vollständig aneignen kann, doch zu dem manche Wege führen.
So etwa möchte ich diese Sammlung von Hasegeschichten verstanden wissen.
Vielleicht ist mir ja Gelegenheit gegeben, ein paar der unzähligen noch ausstehenden eines Tages nachzuliefern. Wenn nicht, finden sich vielleicht andere, die es tun, wobei ein Schwerpunkt auf dem bei mir etwas zu kurz gekommenen Nordkreis liegen sollte.
Danken möchte ich all denen, die am Zustandekommen der Texte ihren Anteil haben. Vor allem aber danken möchte ich meiner Frau, die die Entstehung der Geschichten mit Rat und Tat begleitet und auch die Erstkorrektur vorgenommen hat.
Drei der Texte sind bereits an anderem Ort erschienen, uns ich danke den Herausgebern dafür, dass sie die Erlaubnis gegeben haben, sie hier noch einmal nur wenig verändert zu publizieren. Da auch sie deutlichen Bezug zum Haseraum haben, bietet es sich an, sie in diese Sammlung mit aufzunehmen.
Um Nachsicht bitte ich dafür, dass sich sicherlich Ungenauigkeiten, Irrtümer und Fehler finden lassen, was die manchmal doch durchaus komplexen Zusammenhänge betrifft. Allerdings möchte ich auch darauf hinweisen, dass die Texte nicht den Anspruch auf Wissenschaftlichkeit erheben. sondern bewusst subjektiv gehalten sind. Und wo Belege nicht mehr hinreichen, kann nur Imagination weiter helfen. Oder um ein anderes Wort zu gebrauchen: die Phantasie.