Im Endlektorat: Iris Nepomuck - Kurvendiskussion. Ein Roman über Essstörungen und den Weg zu sich selbst

 

Iris Nepomuck

‚Kurvendiskussion‘
Ein Roman über Essstörungen und den Weg zu sich selbst
Geest-Verlag 2017



In eindrucksvollen Beschreibungen beschäftigt sich die Autorin in diesem Roman mit dem Thema der Essstörung anhand einer fiktiven Geschichte. Familiäre Ursachen, der Schwestervergleich, Erwartungshaltungen von Vater und Mutter, weibliche Rollenerwartungen, Schönheitsideal und vieles mehr müssen als Ursachen ausgemacht werden. Allemal aber ist es die mangelnde Selbstliebe, die die Protagonistin  ins Verhängnis führt. Eigene Unsicherheit führt zu Vorwürfen dem Freund / dem Partner gegenüber. Kleinigkeiten führen zu tagtäglichen Katastrophen.
„Ich schaue in den Spiegel und Tränen laufen mir übers Gesicht. Ich sehe mich. Der Blick in meine Augen dringt tief in meine Seele und erschüttert mich bis ins Mark. Die ganzen Tage, Monate und Jahre scheine ich in einer Art Trance gelebt zu haben. Immer habe ich nur das oberflächliche Ich meiner Persönlichkeit betrachtet. Jenes, das schaut, ob der Lidstrich perfekt sitzt und die Wangen ausreichend hervorstehen. Das billige Plagiat meines Selbst. Nur eine Hülle.“
Iris Nepomuck verdeutlicht, dass die Ursachen der Essstörung jeweils individuell und damit sehr unterschiedlich sind. Sie hängen aufs Engste mit der Persönlichkeitsentwicklung zusammen. Welches Rollenverhalten vermitteln die Eltern, insbesondere auch die Mutter, wie verhält sich der Vater gegenüber den Rollendefinitionen. In welcher Weise wird das Kind, die junge Frau angenommen. Welchen Schönheitsidealen folgt ein junges Mädchen, eine junge Frau, wenn sie versucht, im Modellgeschäft zu landen. Gelingt es einer jungen Frau, sich in der Familie, in Schule, Beruf und Arbeit und in der Partnerschaft eine eigene Persönlichkeit zu entwickeln?
„Ich fühlte mich wie Hesses „Steppenwolf“. Wie Harry Haller glaubte ich, die Facetten meiner Persönlichkeit, die teilweise so widersprüchlich waren, nicht in Einklang miteinander bringen zu können. Ich wollte Geborgenheit und Sicherheit, doch auch absolute Autonomie bewahren. Ich genoss das Gefühl, meinem Partner auf Augenhöhe zu begegnen, anderseits wollte ich Macht in Form von Überlegenheit. Ich war angepasst und dennoch ein Rebell. Ich mochte das Bürgerliche, Konservative und Konventionelle… andererseits verabscheute ich es und empfand es als fürchterlich spießig. Ich war unglaublich kommunikativ und dennoch blieb so vieles ungesagt. Ich war tiefgründig und doch definierte ich mich selbst über Oberflächlichkeit. Wer war ich eigentlich? Ich fand mich wirr und unstrukturiert… die Chaotin, die auch ihr immer in mir gesehen habt. Ich glaubte, ich müsste mich für eine Seite entscheiden und begriff meine paradoxen Gefühle nicht.“
Essstörung ist also zugleich stets eine Störung in der Entwicklung eigner Persönlichkeit.
Die Erkenntnis, dass die Essstörung vorliegt und therapeutische Wege eingeschlagen werden,  ist ein erster, notwendiger Ansatz zur Bewältigung der Erkrankung, der häufig genug mehrfach beschritten werden muss.
„Nie konnte ich dem Anblick meines Spiegel- und Seelenbildes standhalten. Zu groß war die Scham über das, was ich mir und meinem Körper tagtäglich aufbürdete. Die Erkenntnis schmerzt, wenngleich sie unglaublich befreit. „Ich bin wieder hier! In meinem Revier. War nie wirklich weg. Hab mich nur versteckt“ hallt es in meinem Kopf. Ich werde den Kampf aufnehmen. Und zwar zu 100 %. Ich werde mich erneut in Therapie begeben und nie wieder erbrechen.“
Die Überwindung der Erkrankung ist jedoch nicht durch die körperliche Gewichtszunahme zu erreichen. Solch verkürzte Darstellungen, wie man sie leider nur zu häufig in der Literatur findet, führen zumeist nur zu einem weiteren Verstecken der Krankheit. Unter Verdrängung der Wahrheit und in Gefangenschaft gesellschaftlicher Konventionen beginnt man  ein Doppelleben. Scheinbar genesen und wieder normalgewichtig, geht sie von nun an „zum Kotzen in den Keller“.
Wichtigste Ansätze zur Bewältigung der Essstörung finden sich in der Entwicklung eigener Persönlichkeitsmerkmale, in der Akzeptanz von sich selber.
Das Buch insgesamt ist im Stil eines Tagebuchs mit Rückblenden gehalten, was die Authenzität der Darstellung verstärkt.