Marianne Behechti - Variationen

Variationen


Wie an jedem Tag in diesem scheußlichen Urlaub wachte sie ohne jede Erwartung auf, schlug die leichte Bettdecke zurück, legte das Kopfkissen zum Lüften über die Stuhllehne und schaute kurz aus dem Fenster. Da draußen sah es aus wie immer. Gelangweilt glitt ihr Blick in den Nachbargarten, die Boisenbergs hatten ihren Rasen totgepflegt. Er wurde von regelmäßig gleich hoch beschnittenem Kirsch-lorbeer umrahmt, kein Löwenzahn in der Wiese, kein Halm länger als der andere, die Kanten exakt abgestochen und die Liegestühle in der Mitte. Alles wie immer. Nein, irgendetwas war anders. Sie ließ ihre Augen ein zweites Mal, ja sogar ein drittes Mal über das Grundstück wandern, und dann wusste sie, was sie störte. Die Liegestühle standen nicht, wie üblich, exakt in der Mitte, Lehne an Lehne, sondern ein Win-kel von circa 60 Grad war zwischen ihnen und ein Stuhlbein war sogar ein wenig in den Rasen eingesunken. Wie das? Sie ging näher ans Fenster, schaute genauer hin und bemerkte den schwarzen Strich, der durch eine der Platten lief. Die Steinplatte hatte einen Riss. Die in den Rasen eingelassene Platte hätte unter einem der Beine der Liegestühle als Stütze liegen müssen, und zwar genau unter dem, der jetzt abgewinkelt dastand. Die Steinplatte war geborsten. Vielleicht war es ja auch nur eine Zementplatte. Egal was immer es war, es war geborsten.
Ein spöttisches Lächeln zog ihren Mund in die Breite. Wie die beiden Ordnungsfanatiker wohl damit klarkamen? Auch hart wie Stein kann brechen. Ha! Sie setzte sich in den Schaukelstuhl, schaukelte ein wenig und dachte, dass es irgendwie auch rührend war, wie die beiden an jedem sonnigen Tag nachmittags die bunten Polsterauflagen in die Liegestühle legten und sich hineinsetzten. Da die Stühle sehr nahe beieinander standen, berührten die beiden sich automatisch. Ab und an drehten sie ihre Köpfe zueinander. Ob sie sich dabei unterhielten, das konnte sie weder sehen noch hören. Fred und sie hatten die beiden oft beobachtet und sich über das immer gleiche Ritual lustig gemacht. Sie konnte das nun auch allein, ohne Fred, selbst wenn sie sich wünschte, er wäre noch immer bei ihr, so wie immer in den letzten drei Jahren. Aber wenn er … wie auch immer, egal!
Die verschiedenen Variationen von Lehne an Lehne beschäftigten sie so sehr, dass sie ihre miese Laune vergaß. Mehr-mals an diesem Tag ging sie ans Fenster ihres Schlafzimmers, neugierig auf die Entscheidung der beiden Ordnungsfanatiker in Bezug auf den gebrochenen Stein.
Am nächsten Morgen beobachtete sie, wie der Mann eine dünnflüssige Mischung über den Riss in der Platte strich. Na ja, es würde wohl alles beim Alten bleiben. Am Nachmit-tag geschah das Unglaubliche. Mann und Frau trugen eine Art Sockel über den Rasen und setzten ihn auf die reparierte Steinplatte, genau in die Mitte. Kurz darauf schleppten sie eine schwere Platte über den Rasen, legten sie vorsichtig auf den Sockel, rückten sie ein wenig hin und her, bis sie genau in der Mitte auf dem Sockel lag. Dann ging der Mann zurück ins Haus und kam schnell mit einer weiteren, einer kleineren Platte wieder in den Garten. Diese Platte legte er genau in die Mitte unter das eingesunkene Stuhlbein des um 60 Grad verschobenen Liegestuhls. Dann setzten die beiden sich in ihre Liegestühle, erstaunlicherweise ohne die Polsterauflagen zu holen, sahen sich an, nickten, legten erst den einen und dann, nach einer kleinen Drehung, beide Arme auf die Tischplatte, in die ein Schachbrettmuster eingelassen war, und nickten wieder. Sie schüttelten sich die Hände, standen auf und gingen laut lachend zurück ins Haus.
Wie das Leben so spielt, dachte sie. Und wie es spielt. Und genau in diesem Augenblick entschloss sie sich, das Doppelbett wegzugeben und sich ein Tagesbett zu kaufen. Es erstaunte sie, dass ihr dieser Entschluss nicht schwerfiel. Mehr Platz für anderes, das brauchte sie jetzt, und sollte ein anderer Mensch in ihr Leben kommen, dann konnte sie erneut etwas ändern. Was die beiden Ordnungsfanatiker konnten, das würde sie auch schaffen.
Die steile Falte zwischen ihren Augenbrauen verschwand fast, als sie lächelte.

 

aus ihrem neuen Band: Ins Ohr geflüstert, der in dieser Woche rin Köln Premiere feiert