Markus Fegers - Spatz in der Hand (Späte Begegnung mit Wolfdietrich Schnurre)

Spatz in der Hand

Hinterm Esstisch, knapp neben der großen Glastür zu Terrasse und Garten steht ein Bücherregal, das sich meine Eltern für ihre erste Wohnung haben schreinern lassen und später weitergegeben haben an mich.
Ein an zwei Meter, Kirschbaum. Sehr schlicht, sehr übersichtlich.
Der Standort ist nicht wirklich gut gewählt, denn die wahllos und ungeordnet eingeräumten Bücher – Ambrose Bierce neben Upton Sinclair zum Beispiel oder Lewis Carroll an der Seite von Heinrich Heine – sind schutzlos der Sonnenbestrahlung ausgeliefert, ihre Schutzumschläge am Rücken ausgeblichen, die Titel zum Teil kaum noch zu entziffern.
„Das kann ich wirklich nicht länger mit ansehen“, erklärt Liz mehr als einmal. „Wir sollten endlich einen anderen Platz für das Regal suchen.“
Dazu schweige ich meist, knurre oder brumme gelegentlich sogar abweisend.
Räumen um des Räumens willen ist mir, im Gegensatz zu Liz, fremd.
Zudem fristen viele der hier eingestellten Bücher lediglich ein Gnadenbrot: Auch wenn ich sie seit Jahren nicht mehr in die Hand genommen habe, mag ich mich einfach nicht von ihnen trennen.
Eigentlich reichen schon zwei der sechs exakt 57 Zentimeter breiten Böden des Regals aus für das bisschen Kultur, das mir wirklich wichtig ist:
Kästner und Tucholsky, Wilhelm Busch und Robert Gernhardt, Ringelnatz und Morgenstern.
Geistige Götter, vor denen ich niederknie.

So auch heute.
„Räumst du auf?“, fragt Liz.
„Nein. Ich suche nur etwas.“
„Und was?“
„Sage ich dir später.“
„Aha.“ Liz lächelt. „Großes Geheimnis. Kramst du wieder in Erinnerungen?“
„Genau“, sage ich.
„Vielleicht überlegst du dir trotzdem mal, ob wir nicht doch endlich …“
„Nein“, unterbreche ich. „Jedenfalls nicht heute.“
Liz zuckt die Achseln, zapft einen Kaffee aus der Maschine in der Küchenzeile,
verdünnt ihn mit heißem Wasser und verschwindet in ihrem Arbeitszimmer.

Ich lasse den Blick eine Weile über mein belletristisches Sammelsurium streifen und ziehe dann ein schmales Paperback aus dem Regal.
Fischer Bücherei, Preis: Zweimarkachtzig.
Vom Einband löst sich die schützende Klarsichtfolie.
‚Wolfdietrich Schnurre‘ steht, kaum lesbar, auf dem Rücken.
Wolfdietrich wer?
Schnurre.
Vorsichtig, um die alte Leimbindung nicht zu brechen, öffne ich das Büchlein.
Sein Papier ist braunfleckig und verstaubt, ein Datum im Vorsatz verweist auf den Februar 1978 als Kaufdatum. Lange her.
Das Inhaltsverzeichnis listet Gedichte und Kurzgeschichten, typische Nachkriegsliteratur: schnell, hart, politisch ambitioniert, oft beißend sarkastisch.
„Ein militanter Kauz und Ruhestörer“, hatte Reich-Ranicki einst geurteilt. So zumindest habe ich es notiert, handschriftlich mit Kuli auf einem vergilbten Zettel, der immer noch im Büchlein steckt.
Ich blättere.
Und habe unvermittelt wieder vor Augen, was mich damals an Schnurre fasziniert hat:
Seine Zeichnungen, mit denen er die eigenen Texte illustrierte.
Umwerfend komische Figuren, schräg und skurril, irgendwo zwischen Cartoon und Karikatur.
Er male nur „Männeken“ – so soll Schnurre sein grafisches Werk abgetan haben.
Tiefstapelei?
Ich verehre Wilhelm Busch, ich liebe Walter Trier, dessen Bilder zum Erfolg von Kästners
Kinderbüchern ganz entschieden beigetragen haben, aber beide bleiben Idole. Unerreichbar.
Schnurre dagegen ist greif- und nahbar.
So zumindest erschien es mir früher.
Was mir Mut machte, frei vom Streben nach Perfektion selbst zu zeichnen, neben die
mechanische „Olivetti studio“, Hammerschlaglackierung in Azurblau, geliebtes Werkzeug meiner frühen literarischen Versuche, ein Blechdöschen mit Bleistiften und Tuschefedern
auf den Schreibtisch zu stellen.
Die Olivetti hat längst einem Laptop Platz gemacht, die Feder dem Fineliner.
Schnurre ist mehr als dreißig Jahre tot und weitgehend vergessen.
Seinen hundertsten Geburtstag, der Anlass für eine Story hätte geben können, habe ich verpasst.
Leider.

Liz steckt den Kopf zur Türe herein.
„Und?“, fragt sie. „Gefunden, was du gesucht hast?“
„Ja“, sage ich. „Komm mal gucken!“
Sie stellt ihre leere Tasse in die Spüle und hockt sich zu mir.
Dicht aneinander gedrängt und eingerahmt von skandinavischen Krimis stehen zwei identische, blass gelbe Schnurre-Bücher vor uns.
„Hier“, sage ich.
„Der Spatz in der Hand“, liest Liz. „Klar doch. Eins von dir, eins von mir. Deins hat einen Riss im Schutzumschlag, meins nicht. Was ist daran besonderes?“
„Sie stehen da, seit wir zusammen wohnen“, erkläre ich.
„Stimmt“, sagt Liz. „Unzertrennlich, wie es scheint …“
„Ganz genau.“ Ich lege ihr den Arm um die Schultern. „Und so soll es bleiben, oder?“