Milena Heuermann - Umkehr

Milena Heuermann
Umkehr

Der Waldweg erstreckte sich vor mir. Ich würde noch eine Weile gehen. Dem Treiben der Stille lauschen. Mich der Illusion von Idylle hingeben. Die Bäume trugen wieder Blätter und Blumen wuchsen am Wegrand. Ach, die Idylle war einfach so überzeugend, so lieblich umschmeichelte sie meine Unsicherheit, meine labile Person. Wenn ich angestrengt lauschte, hörte ich ein Cello. Wenn ich mich angestrengt zwang, war ich bodenständig. Ich lauschte angestrengt, da hörte ich Schritte hinter mir.
Ich drehte mich um. Ein Mädchen lächelte mich an und lief mit einem Mal neben mir. Freundliches Gesicht. Apart.
„Hallo“, ihre Augen strahlten.
„Hallo.“
„Wollen wir ein Stück zusammen gehen und uns unterhalten?“
„Gerne“, sagte ich und vergaß einen Augenblick das Cello. Wurde dann aber unruhig. Wo war sie? Die Musik, die mich auf dem Waldboden hielt?
Das Mädchen hatte den stillen Klang verschluckt.
„Wohin bist du unterwegs?“, fragte sie mich.
„Ich gehe nach Hause!“
„Hast du eines?“
„Natürlich, jeder hat ein Zuhause!“
„Ich nicht, ich habe keines“, sagte das Mädchen, ohne jegliches Bedauern in ihrer Stimme.
„Wohin gehst du denn?“, fragte ich nun.
„Nirgendwo hin. Ich bin auf der Suche!“
„Nach was?“
Ich starrte auf den Boden, konnte sie nicht anschauen. Sie kam mir so vertraut vor.
„Ich bin auf der Suche nach entschlossenem Zögern, nach dem Beständigen meiner Unsicherheit. Bin auf der Suche nach mir.“
„Bist du schon lange unterwegs?“, fragte ich.
„Oh ja, schon eine gute Weile.“
Ich spürte, dass sie mich von der Seite betrachtete.
„Was ist mit dir? Warum bist du so unglücklich? Wo hast du dich vergessen?“
Intime Fragen waren mir bisweilen unangenehm gewesen, doch bei ihrer Frage vernahm ich das Cello. Hörte es, obwohl ein Mensch neben mir ging. Es beruhigte mich und ich antwortete: „Mitunter begegne ich mir. Doch, ja du hast recht, ich bin mir abhandengekommen. Wo genau weiß ich nicht, sonst würde ich einfach umkehren. Dorthin zurückgehen und mich wieder mitnehmen!“
Das hübsche Mädchen schwieg einen Moment, dann flüsterte sie: „Ich kehre für dich um!“
Damit wandte sie sich ab und ging den Waldweg zurück.
Ich blieb stehen und schaute ihr nach, wie sie sich immer weiter von mir entfernte, wie der Raum zwischen uns immer größer wurde. Da ging sie.
Wie ich ihr nachsah, wusste ich, dass niemand anderes dort ging als ich.
Ich drehte mich um und ging in die andere Richtung weiter. Wie dumm ich war, ich hätte dem Mädchen einfach folgen können und hätte mich wieder gehabt. Doch ich wagte es nicht, denn etwas hatte mich kaputt gemacht. Meine Entschlossenheit war erschöpft. Ich hatte Angst, das Cello könnte wieder verstummen. Außerdem tröstete mich, dass das Mädchen kein Zu-hause hatte. Sie wurde also nirgends erwartet. Die Suppe würde nicht kalt werden, ganz abgesehen davon, dass man Illusionen nicht löffeln kann. Manchmal haben wir Eingebungen, doch wir trauen uns nicht, uns ihnen hinzugeben. An jenem Tag war deutlich, dass ich hätte umkehren müssen, um das wieder hinzubekommen, was zerstört war.

 

aus:
Trotz alledem
Anthologie zu den
Vierten Berner Bücherwochen
Hg.: Reinhard Rakow
Mit einem Geleitwort
der Niedersächsischen Ministerin
für Wissenschaft und Kultur
Dr. Gabriele Heinen-Kljajić
Geest-Verlag 2013