Norbert Büttner - Der Auftrag des Schriftstellers (aus seinem demnächst erscheinenden Band 'Letzte Vorschläge'

Norbert Büttner

Der Auftrag des Schriftstellers

„Was ist Literatur? Warum schreibt man? Schrieb Raci-ne aus den gleichen Gründen wie Proust?“
Diese rhetorischen Fragen, die der französische Litera-turprofessor Roland Barthes 1963 erhob, haben es viel-leicht mehr in sich, als man denkt. Es sei nur die letzte genommen, die anscheinend einfachste, weil konkretes-te: Schrieb Racine aus den gleichen Gründen wie Proust? Schon ein erstes Nachsinnen erbringt, dass das mit einem einfachen Ja oder Nein nicht zu beantworten ist. Es gibt mehrere, einander widersprechende Aspek-te.
Am leichtesten scheint es zu sein, wenn die Angelegen-heit von der Seite der Gesellschaft, der lesenden Öffent-lichkeit her betrachtet wird. Sie ist es schließlich, die darüber entscheidet, ob ein Schriftsteller überhaupt als ernsthafter Autor angesehen wird und vor allem wel-chen Rang er in seiner Gegenwart einnimmt. (Es ist die-ser Rang nicht mit der künstlerischen Bedeutung des Schriftstellers zu verwechseln. Kafka und Kleist – um zwei einleuchtende Beispiele anzuführen – besitzen im-mense Bedeutung für die Entwicklung der deutschen Literatur, aber ihre Zeitgenossen billigten ihnen – wenn sie sie überhaupt beachteten – nur einen sehr niedrigen literarischen Rang zu.)
Die Öffentlichkeit seiner Zeit, in der ein Autor sich spätestens mit der Publizierung seines Werks bewegt, formt einen Teil der Gründe, warum ein Schriftsteller schreibt.
Racine (um auf ihn zurückzukommen) war ein höfischer Autor unter dem Sonnenkönig Louis XIV. Kunst war in dieser Periode hauptsächlich öffentliche Repräsentation der Herrschaft. Racine erhob die Tragödie zur Hauptform der Kunst des absolutistischen Zeitalters. Ein Dra-matiker ist von Haus aus bereits ein öffentlicher Künstler, da sein Werk nur in einer Zurschaustellung vor einem kollektiven Publikum seine Aura ganz entfalten kann. Das Lesedrama ist eine akademische Sonderform. Aber ein höfischer Autor stellt sich noch einmal besonders coram publico aus. Denn er steht ja nicht nur für sich ein, sondern für das monarchische Regime. Er ist in erster Linie nicht so sehr schöpferisches Individuum, Hersteller des Erzeugnisses Kunst, sondern die öffentliche Stimme, die repräsentative Figur einer Staatspolitik. Und sein Publikum – Auftraggeber und Zuhörer zugleich – ist von erlauchtester Art: Es ist der König.
Proust dagegen wirkte in einer Zeit, in der der Künstler und vor allem der Schriftsteller nicht mehr so sehr ein öffentlicher Repräsentant als ein scheinbar nur für sich schreibendes Individuum ist und daher als reale Gestalt in der Öffentlichkeit verblasst. Es ist seltsam: Die mo-dernen technischen Hilfsmittel machen den Autor prä-senter als je zuvor und sein Bild ist jedermann zugäng-lich, trotzdem verschwindet er als denkende Persönlich-keit aus der Öffentlichkeit, in der er heutzutage beinahe nur noch als Gesichtslarve der Medien zugegen ist. Ein Autor wie Shakespeare, über den außer seinem Werk fast nichts bekannt ist, war in seiner Zeit weitaus präsen-ter als in unseren Tagen ein Nobelpreisträger.
Wenn Proust sich der medialen Sphäre, die sich damals zu entfalten beginnt, auch fernhält, so findet er natürlich eine Öffentlichkeit. Aber sie ist privater, beinahe intimer Natur. Es ist die Atmosphäre der aristokratischen Sa-lons, die zu seinem Lebenselixier wird. Und wie seine Person, so sucht er auch sein Werk vor unerwünschter Einsichtnahme zu hüten. Sein modernes Epos über die französische Rentierbourgeoisie, die sich gern in aristo-kratische Traditionen hüllt, gibt sich den Anschein vertrautester Preziösität. Die Öffentlichkeit des Buch-markts, auf dem sich schon zu seiner Zeit jeder Schriftsteller, der Erfolg haben will, präsentieren muss, ist nicht seine Sache.
Hier (Racine) öffentliche Vertretung einer Herrschaft, individuelle Stimme einer kollektiven Ansicht – dort (Proust) Ablehnung jeglicher Repräsentanz und den ihr entspringenden Verpflichtungen, tagebuchartiges ausschweifendes Schreiben nur für sich selbst. Es scheint klar zu sein, dass die beiden nicht aus den gleichen Gründen schreiben.
Aber diesem Nein muss auch ein Ja folgen.
Ein Schriftsteller ist nicht nur Vertreter seiner Epoche, gleichsam ihr künstlerisches Gesicht. Denn er würde zu den Menschen dann gar nicht sprechen können, weder zu denen seiner Zeit, die aber in Opposition zu ihr stehen, noch zu denen späterer Zeiten, denen die Wider-sprüche, die seine Gesellschaft bewegen und die er in seinem Werk verhandelt, völlig egal sind. Er wäre schlichtweg unverständlich, toter Ballast der Geschichte. Dass sowohl Racine als auch Proust das nicht sind, wird, soweit ersichtlich, von niemandem bestritten.
Der Schriftsteller ist auch als Repräsentant seiner Zeit ein Individuum und gerade diese Ausstattung macht ihn interessant. Eine Kunst ohne individuelles Gesicht ist keine. Auch wenn der Autor im (selbst erteilten oder ihm unbewusst auferlegten) sozialen Auftrag schreibt, schreibt er zuerst für sich. Es ist sein Bemühen, die Welt – und sich darin – zu ergreifen, um sie zu begreifen. Und da der Mensch, wie ein deutscher Philosoph entdeckt hat, niemals ein vereinzeltes, nur für sich existierendes Wesen ist, sondern ein Ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse, so stehen Erfahrung und Erkenntnis des Schriftstellers natürlich stellvertretend für Erfahrung und Erkenntnis vieler Menschen, sowohl seiner als auch – wenn er Glück hat – späterer Zeiten.
Wenn ein Schriftsteller arbeitet, ist er allein. Die Welt durchläuft ihn in diesem Moment als sinnliche Vorstellung. Er muss mit ihr kämpfen und sie bestehen als der einzige Mensch, der existiert. Diese Auseinandersetzung kann ihm niemand abnehmen noch kann sie ihm er-leichtert werden durch die Aussicht auf irgendeine Repräsentanz. Er muss sie durchleben mit nichts als der vagen Aussicht auf die Erschaffung eines Werks.
Es sind die gleichen Gründe, die Racine und Proust und überhaupt jeden Schriftsteller zum Schreiben bewegen.