Rolf Siegmann - Wind (Antirassismusaktion ' Vor allem anderen bin ich Mensch')

Ein scharfer Wind treibt von Ost nach West. Blätter segeln. Jamila zieht die Mütze übers Haar, den Reißverschluss der Jacke bis ganz hinauf. Eine Maske wärmt die Nase. Neben Jussuf stehen welche wie sie, aber er hält sich gerade. Dafür liebt sie ihn, morgens, mittags und abends.
Obwohl es nach Wald duften müsste, riecht es nach Diesel. Hier gibt es Wälder mit Birkenstämmen, so weiß. Weiter im Westen werden Städte auf festem Grund gebaut, atmen Glück. Ob sie von Wäldern umgeben sind?

Mit dem Flugzeug waren sie gereist, hatten sich Geld geliehen, die Ersparnisse aufgebraucht, um der Pest aus Not und Unterdrückung zu entkommen. Wie all die anderen. Über den Wolken hat sie Jussuf gesagt, dass sie ein Kind bekommen werden, sie sei sich jetzt sicher. Sein müdes Gesicht verwandelte sich in eine Sonne.

Zwei Busse kommen angefahren. Soldaten steigen aus. Die Sonne gleißt über sie hinweg. Winterkalt strahlt das Firmament, gibt nicht genug Wärme ab, obwohl keine einzige Wolke den Himmel trübt. Tarnfarben schreiten sie heran, Stöcke baumeln an ihnen herab. Manche führen Hunde an der Leine, struppig, stark. Der Anführer, die Haare hellblond, trägt ein schwarzes Barett und betrachtet die Wartenden. Nachdem er die Hände hinter dem Rücken verschränkt hat, fängt er an zu sprechen, ein junger Mann, dem nie ein richtiger Bart wachsen wird. Seine Stimme tönt heiß wie Eis in Jamilas Bewusstsein: „We take you to Paradise and help you to cross the frontier.“ Dann hebt er die Arme und schnippt mit den Fingern.

Uniformierte nähern sich den Menschen, mustern sie, trennen die einen von den anderen, schicken sie zu den bereitstehenden Bussen. Einer schubst Jussuf nach links, ein anderer Jamila nach rechts. Jussuf zeigt auf Jamila. Ein Soldat grinst. Er greift nach dem Eisen im Gurt, er schwingt’s. Seine Augen sind blau. Jussuf schaut zu Boden. Schließlich tragen sie ihre Taschen in verschiedene Richtungen, blicken einander hinterher. „Wir sehen uns drüben“, sagt Jussuf. Jamila nickt. Der Bus ist mit der Farbe eines südlichen Sommers lackiert.

Hinten sucht sie sich einen Platz, stellt die Tasche auf den Schoß, streicht über den Bauch, setzt sich so, dass die Lehne kaum den Rücken berührt. Das Polster riecht nach Lavendel, die Luft nach Schweiß und Bier. Zuletzt steigen die Soldaten ein. Drei Hunde legen sich zwischen die Sitzreihen, unter dem ungleichmäßig gefärbten Fell pure Kraft. Gute Tiere, treu und schön. Die Scheiben sind zugeklebt, eine Folie aus schwarzer Milch. Obwohl das Wasser schal schmeckt, trinkt sie davon, Schluck um Schluck. Wasser ist Leben. Im Dämmerzustand schweben Traum und Wirklichkeit. Bevor sie endgültig einschläft, hält das Fahrzeug an. Wie kurz der Weg zur Grenze ist! Über Land und Meer, über Stock und Stein führt der Weg zum Paradies. Wenn es doch draußen nicht so kalt wäre!

Der Anführer steht auf, verlässt den Bus und pfeift seine Rüden herbei, befiehlt ihnen: spielt auf nun zum Tanz. Seine Leute folgen ihm. Als die hintere Tür aufgeht, blendet die Wintersonne. Licht blitzt auf: Sterne, manche mit Schweif, obwohl die Nacht noch fern ist. Schreie erklingen, Pfiffe. Jamila steigt mit den letzten aus. Alle sind da, alle bereit. Arme werden gepackt, Schlagstöcke benutzt. Sie geben die Richtung vor, schieben und treiben die Schafe. Schneller und schneller. Plötzlich rennen sie, plötzlich laufen die Hunde frei, bellen. Hundefreiheit, auch wenn sie darin besteht zu jagen, zu beißen, das Wild zu stellen. Jamila bleibt etwas zurück, streift die Birken, schlägt Haken. Die Soldaten eilen an ihr vorbei, beachten sie nicht. Vielleicht ist sie unsichtbar, ein Geist. Irgendwann hört sie aus der Ferne die Rufe der anderen, Jussuf hört sie nicht. Aber sie sieht den Zaun, fester Draht, von Dornen gekrönt, unmöglich, ihn zu überwinden. Also geht sie zurück zum Wald. Das Laub schmatzt, als wollte es Jamila aufsaugen. Stille kehrt ein. Sie lehnt sich an einen schief gewachsenen Baum. Die Rinde blättert ab, weiße Flächen, darunter nackte Haut.

Um die Panik zu bekämpfen, schließt sie die Augen, denkt an das Kind, das da in ihr wächst, an Frühling und Fröhlichkeit und Jussuf. Ein Geräusch neben ihr weckt sie, etwas streift ihre Waden. Einer der Hunde hat sie gefunden. Anstatt zu bellen, zu beißen, reibt er sich an ihr, der Schwanz weht wie eine Fahne, ein großes Tier mit Smaragdaugen. Ohne dass sie darüber nachdenkt, sinkt sie auf die Knie, streichelt über das Fell. so weich, so dicht. Sein Wolfsgesicht schleckt über ihre Backe, schnüffelt an ihr. Er scharrt im Laub, gibt Jamila ein Zeichen und läuft voran, weiter und weiter. Sie folgt ihm. Die Dämmerung wird kommen, die Schatten, bevor es dunkel wird. Bald entdeckt sie den Zaun wieder. Lange gehen sie, bemerken keinen. Bis sie das Licht erkennt, ein kleiner Punkt, der immer größer wird. Der Hund hält darauf zu, beschleunigt die Schritte, dreht sich ab und zu nach Jamila um.

Aus dem Nebel löst sich ein orangerotes Zelt auf der anderen Seite des Zaunes, ein ganzes Stück entfernt, davor ein Lagerfeuer. Rauch steigt zum Himmel empor, helle Schwaden. Menschen wärmen sich dort. Am Zaun stehen auf beiden Seiten Leitern, die Sprossen aus starkem Holz. Beim Hochklettern fällt die Maske aus der Tasche. Der Hund bellt auf, schnappt sie sich und verschwindet so schnell zwischen den Bäumen, als wäre er nie da gewesen.

Erst als sie auf festem Boden steht, ruft sie nach den Menschen. Vier kommen ihr entgegen, drei Frauen, ein Mann. Eine reicht ihr den Becher mit Tee, die zweite gibt ihr zu essen, die dritte hüllt Jamila in eine Decke. Jussufs Gesicht ist zerkratzt, die Hose zerfetzt. Jamila umarmt ihn.

 

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