06.08.2022 - aktuelle Autorin - Brigitte Seidel

 

Brigitte Seidel

 

Brigitte Seidel lebt in einer süd­badi­schen Kleinstadt. Beruflich arbeitet sie als Brü­ckenbauerin bei der Le­bens­­hilfe e. V.
In ihrer schriftstellerischen Tätigkeit ent­wickelte sie unter anderem ein Projekt gegen Rechtsextremismus und war damit an Schulen unterwegs.
Ihre Publikationen erschienen in ver­schie­denen Literaturzeitschriften.
Sie erhielt für ihre Texte verschiedene Auszeichnungen (2002 den Salonline Lite­raturpreis, 2002-2004 Auszeich­nungen der Brentanogesellschaft).
2011 las sie beim Leipziger Literarischen Herbstfestival.

 

Veröffentlichungen im Geest-Verlag

 
Die Waggontüren waren soeben zugefallen und der Zug rollte wieder langsam an, nachdem er Menschen ausgespuckt hatte. Es war erst fünf Uhr und der Mor-gen senkte sich träge, kühl und feucht auf den Bahn-steig und die Schienen. Sie glänzten. Jemand hatte sie die ganze Nacht hindurch poliert. Die Feuchtigkeit des feinen Sprühregens brachte diesen Glanz noch stärker zur Geltung. Orientierungslose und zielstrebige Leute schauten in verschiedene Richtungen, um genauso orientierungslos oder zielstrebig diesen Platz zu verlassen. Danach war der Bahnsteig wie von unsichtbarer Hand aufgewischt, bis auf einige wenige, die war¬tend zurückblieben, ein paar übersehene Reste.
Ein kleines Mädchen stand mit offenem Mantel und offenen Augen zwischen einem Wagenstandsanzeiger und einem Koffer, den eine Frau noch vor Kurzem hier mit dem Hinweis an das Kind abgestellt hatte, es solle hier warten. Jetzt umklammerte das Mädchen den noch warmen Griff des Koffers. Das Kopftuch, welches das Kind trug, rutschte über die Stirn, als es den Kopf neigt,. Zwei Zöpfe fielen nach vorne. Ein Zug raste vorbei, als sei er auf der Flucht, und die Wucht des Sogs, den er dabei erzeugte, wirbelte die Zöpfe hin und her. Das Mädchen setzte sich jetzt auf den Koffer, ohne den Griff dabei loszulassen.
Inzwischen war es sechs Uhr. Ein Mann schlug unter leisem Fluchen immer wieder mit der Faust gegen einen Zigarettenautomaten. Nach jedem Schlag stöhnte der metallisch auf. Dennoch zeigte er keinerlei Be¬reitschaft, sich diesem Druck zu beugen und das von dem Mann geforderte Päckchen herauszugeben. Das Mädchen begann zu weinen. Ein Soldat streckte ihm eine Tafel Schokolade entgegen. Er redete dem Kind freundlich zu, bis es vertrauensvoll das Geschenk ent¬gegennahm. Für Sekunden hatte das Mädchen vergessen, dass es allein war.
Auch als der Zeiger der Bahnhofsuhr schon drohend auf sieben zeigte, war die Mutter noch nicht zurückgekommen. Der Soldat hatte während der ganzen Zeit  neben dem Mädchen gestanden. Jetzt hob er es mit den Händen hoch, wie einen zerbrechlichen Gegen¬stand, nahm  es auf den rechten Arm und trug mit der linken Hand den Koffer, als er zum Ausgang lief. Das Mädchen hatte nun alle Scheu verloren. Es drückte sich an die Brust des Soldaten. Die Schokolade malte kleine braune Flecken an dessen Hals.