13.08.2022 - aktuelle Autorin - Christine Metzen-Kabbe



Christine Metzen-Kabbe
wurde 1953 in Olden­burg geboren.
Nach dem Abitur stu­dierte sie in Göttingen Ge­schichte und Englisch. Seit 1995 lebt und ar­beitet sie wieder in Ol­den­burg.

Im Geest-Verlag erschienen:

 
Die Frau in der Winkelgasse


Natürlich weiß jeder, dass die Winkelgasse – Diagon Alley – sich in London befindet, in der Welt der Fantasie, der Welt von Harry Potter aus der Feder von J. K. Rowling.
Die Winkelgasse in dieser Geschichte befin-det sich im wirklichen Leben, auf dem Oberland der Insel Helgoland. Die beiden Fenster der Ferienwohnung, die ein Freund und ich gemietet hatten, ließen den Blick direkt in die Winkelgasse gleiten. Nach einer längeren Zeit des angespannten Arbeitens, die meine Ge-sundheit erheblich beeinträchtigt hatte, sagte ich mir, ‚Was du brauchst, mein Junge, ist eine Zeit der Erholung‘. Also gönnte ich mir einige Wochen auf Helgoland. Das Hochseeklima, lange Spaziergänge auf dem hohen Inselfelsen und am Strand würden meine angeschlagene Gesundheit sicherlich wieder festigen können. Da ich ungern allein dorthin reisen wollte, hatte ich einen Freund noch aus der gemeinsamen Studienzeit gebeten, mich zu begleiten.

Helgoland, hoher, schroffer, roter Sandsteinfelsen, vom Meer umschlungen. Seit Jahrmillionen dem Einfluss von Wind und Wellen ausge-setzt. Allein und trutzig in der immerwährenden Brandung einer rauen, unendlichen See. Nist- und Brutplatz Tausender und Abertausender der seltenen Trottellummen und Basstölpel. Heimat der Seehunde und Kegelrobben. Der Eindruck des Versetzt-Seins in eine andere Zeit, in eine andere Welt gar, der Geruch von Seewind, Salz und Seetang hatte mich bald in seinen Bann gezogen und meiner bisherigen Wirklichkeit entrückt.

Als Kenner und Genießer von Pure Single Malt Whiskey erfreuten mich natürlich auch die vielen Duty-free-Läden der Insel. Und ein Exemp-lar der wunderschönen Flaschen des ausgezeichneten Irischen Whiskeys „The Wild Geese“ mit den drei durch irrealen Nebel segelnden Schiffen halfen mir, die Zeit der Arbeit und des Stresses langsam zu verarbeiten. Entspannen-de Lektüre hatte ich mir gleichfalls mitgenom-men, und so saß ich des Abends oft am Fenster unserer Ferienwohnung mit einem Glas „The Wild Geese“, dieses belebenden Getränks, und meinem Buch „Victorian Detective Stories“, las und schaute nach draußen.
Direkt vor mir zeigte sich ein schmaler, verwinkelter Weg, dem ich den Namen „Winkelgasse“ gegeben hatte. Das Auge fiel zunächst auf die beiden gegenüberliegenden Häuser an der breiten Querstraße, zwischen denen sich die kleine Gasse auf die breite Straße schlängelte; vor einem der Häuser wuchs eine mittelgroße stämmige Palme, das andere hatte eine rote Klinkerverkleidung. Vom Eingang in die enge Gasse fiel der Blick auf die Querwand eines schlicht verputzten und in dunklem Grün gestrichenen Hauses, von dort wanderte er weiter nach links auf den schmalen Streifen einer dunkelblauen Längswand mit nur einer Seite eines weißen Fensterrahmens, um schließlich an dem kräftig grünen Busch vor einem weiteren, in dunklem Rot gehaltenen Hausteil mit schwarzem Dach und einem weißen Sprossenfenster zu verweilen. Ein wunderschönes Farbspiel in kräftigem, dunklem Grün und Blau, dann ein intensives Weinrot in einem etwas steileren, nach links abkni-ckenden Winkel. Die Sicht endete an einem schmalen Ausschnitt eines weißen Hauses. Menschen kamen nur sehr selten aus dieser kleinen Gasse herauf, die abends im Schein der nostalgischen Laterne an dem dunkelblauen Haus im Dämmerlicht geheimnisvoll leuchtete und lockte ...