14.04.2021 - aktueller Autor - Gerhard Roos

 


Gerhard Roos, geboren 1943, war im rheinland-pfälzischen Taunus Pfarrer. Im Ruhestand in seiner Wahlheimat zwischen Jadebusen und Weser bewegt ihn die Geschichte dieser Dörfer und des lebensnotwendigen Deichbaues. Davon, aber auch aus den Vebrechen der Nazizeit und dem leben heute, erzählt er in einer Mischung aus Fakten und Ersonnenem.

Ausschnitt aus Erben verpflichtet:

Das gemeinsame Kochen und die folgende äußerst schmackhafte Mahlzeit machte beiden große Freude. Nach einer behaglichen Tasse Tee und einigem Plaudern über dies und das ging es wieder an die Arbeit. Klaudia begann erneut mit dem Diktat:


„Die Meldungen aus dem Kriegsgeschehen sind entmutigend für uns Ausländer. Hitler hat alle Fronten vorangebracht. Man spricht davon, dass im kommen-den Jahr der europäische Eroberungskrieg des Deutschen Reiches vollständig gewonnen sein könnte. Dann wäre unsere Heimat endgültig deutsch regiert und wir ein versklavtes Volk. Wenigstens rotten sie uns nicht einfach aus, wie sie das offensichtlich mit den Juden machen. Elise Bolte hat einen Volksempfänger, der bei jeder Mahlzeit eine Mischung aus Musik und Nachrichten ausspuckt. Letztere sind zunehmend sehr deprimierend. Aber auch die Boltes sind nicht glücklich. Wo steckt der Vater der kleinen Hilde? Wird er wieder nach Hause kommen? Elise weint oft, ich weiß das, man sieht es ihr an.
Mir fehlt bei aller Dankbarkeit für die ordentliche Behandlung durch die beiden Frauen im Hof und trotz unserer versteckten Treffen von uns Landsmännern im Kiefernwald so etwas wie ein normales gesellschaftliches Leben. Du begegnest – außer den beiden Frauen im Haus, die mich zu Recht auf Abstand halten, den auch ich konsequent wahre – keinem weiblichen Wesen, mit dem du lachen kannst, mit dem du tanzen kannst, das du küssen kannst und wer weiß, was alles noch mehr. Du bist als Mann eine vertrocknete Witzfigur. Du hast keinen freien Willen, du wirst nie eine Familie haben, du bist ein verdammt armes Schwein.
Mein Bruder Antoni in Dessau schreibt mir, dass er seit Kurzem in der Testwerkstatt arbeitet, weil die Ingenieure gemerkt haben, was er kann. Er ist ja wie ich gelernter Feinmechaniker. Sein Meister lädt ihn manchmal sonntags nach Hause ein. Und sein direkt zuständiger Ingenieur lässt ihn sogar bisweilen an den Zeichentisch und gibt ihm Sonderaufgaben. So haben wenigstens wir beide Glück gehabt mit unseren Einsatzstellen, aber auch er lässt durchblicken, dass er manches vom normalen Leben vermisst. Und von unserem Jüngsten fehlt uns beiden jede Information. Es ist zum Verzweifeln. – Geschrieben am 25. Juni 1941.“

Klaudia machte eine kleine Pause. „Hast du gewusst, wie die Zwangsarbeiter im Dritten Reich gelebt haben? Wenn die beiden Brüder Nowak ein ‚gutes‘ Leben hatten, wie mochte es dann anderen ergangen sein? Ich weiß, dass ein Onkel meines Großvaters in dieser Zeit Zwangsarbeiter im Norden des Deutschen Reiches war, der nie zurückgekommen ist. Keiner weiß bis heute, wo er abgeblieben ist. Das ist doch schrecklich, oder?“ „Ich weiß nur, dass viele Zwangsarbeiter aus Polen wie aus Russland richtig gequält worden sind. Und die meisten deutschen Zeitgenossen mochten darüber später nicht viel erzählen. Die hatten alle irgendwie ein schlechtes Gewissen. Entweder als Mit-täter oder als Weggucker. Lass uns nun weitermachen. Das Buch ist doch recht spannend.“


„Also los: Inzwischen habe ich von zweien der polnischen Freunde gehört, dass in den Dörfern arbeitende Zwangsarbeiter meistens schlechter dran sind als wir hier draußen in den Höfen. Dort ist wohl der Druck auf die Frauen, die ihre Betriebe ohne ihre Männer führen müssen, durch die so nah wohnende Nachbarschaft erheblich größer als hier. Da bin ich jetzt doch froh, im Außenbereich eingesetzt worden zu sein. Weiter im Süden des Landkreises, das Gebiet heißt Stedingen, sollen in einem der Dörfer Nachbarn eine Kriegerwitwe angezeigt haben, die sich mit ihrem russischen Zwangsarbeiter eingelassen hatte. Der Russe wurde verhaftet und auf Nimmerwiedersehen abgeführt, wo-hin, hat wohl dort niemand erfahren. Und die Frau hat ihre Haare abrasiert bekommen und ist von da an im Dorf geächtet. Solche Beziehungen sind ‚strafbare Handlungen‘. Die Leute nennen sie ‚Rassenschande‘. Ich muss hier in jeder Hinsicht verdammt vorsichtig sein!
Wir beobachten seit einigen Wochen, dass es kaum noch neue Zwangsarbeiter in den Höfen gibt. Dort, wo Helfer benötigt werden, sieht man jetzt ganz oft junge Frauen bei der Arbeit, die vorher nicht dagewesen sind. Oma Bolte berichtete gestern beim Abendessen, das seien Mädchen, die vom Reichsarbeitsdienst hierher gebracht worden seien und ihr Pflichtjahr ableisten müssten. Schon beim Heuen war mir aufgefallen, dass auf der anderen Seite des Zuggrabens, bis zu dem in einem langen Streifen die Wiesen der Familie Bolte reichen, zwei solcher junger Mädchen mit der Bäuerin und ihrem alten Vater am Arbeiten waren. Beide erschienen mir richtig hübsch. Sie waren viel-leicht achtzehn Jahre alt. Die drei Söhne der Bäuerin sind erheblich jünger, der älteste mag gerade einmal acht Jahre zählen.
Am heutigen Sonntag geschah etwas völlig Unglaubliches. Das nach langen verregneten Wochen endlich wieder sonnige Wetter brachte uns wieder zusammen. Als wir uns in unserem Wäldchen versammelten, war mein Freund Dawid nicht allein. Er hatte – ich konnte es kaum fassen - die zwei genannten Pflichtdienstmädchen mitgebracht. Er arbeitet ja direkt in deren Nachbarschaft. Die beiden erklärten uns vergnügt, sie fänden das Dasein auf dem Bauernhof, wo sie eigentlich ganz gut behandelt würden, reichlich langweilig. Nir¬gendwo wäre was los. Keine Tanzveranstaltungen, kei¬ne jungen Männer, nur Arbeit oder gar nichts.
Ich bemerkte sofort, dass sich Dawid mit der größeren Blonden sehr intensiv abgab, die sich auch sofort neben ihn setzte. Auweh, hoffentlich hat er sich nicht in das Mädchen verliebt, das könnte für beide gefährlich werden. Die kleinere Schwarzhaarige suchte sich auch ein Plätzchen in unserer Runde, ausgerechnet neben mir. Wir sitzen bei Trockenheit immer im Kreis auf dem Boden. Zumeist im sogenannten Schneidersitz. Den beherrschte sie auch, wenngleich sie dazu ihren Rock sittsam zwischen ihren Oberschenkeln zusammenraffen musste. So bot sie ein reizvolles Bild, gemischt aus Demut und Herausforderung. „Ich bin die Eva Disselkamp, und wie heißt du?“ „Mateusz Adam Nowak, aber alle hier nennen mich nur Adam.“ Sie lachte. „Adam und Eva, wie in der Bibel.“ Und gleich fing sie an zu plaudern. Erzählte, dass sie aus Osnabrück stamme, dass sie vorher noch nie mit Landwirtschaft zu tun gehabt habe, dass sie drei Geschwister habe und dass ihre Freundin drüben bei Dawid Johanna Merz heiße, von jedermann Hanni genannt werde und auch aus Osnabrück sei.
Ich konnte – und wollte auch – mich nicht gegen das Gefühl wehren, die muntere Gesellschaft der putzigen Kleinen da neben mir von Herzen zu genießen. End-lich mal ein unkompliziertes weibliches Wesen, das nichts wollte außer ein bisschen Abwechslung. Sie fragte mich aus, woher in Polen ich wohl komme. Als ich ihr „Grodzisk Mazowiecki bei Warschau“ sagte, fing sie an zu lachen. Das könne sie sich niemals merken. Dann wollte sie wissen, ob ich bei meiner Bauernfamilie gut behandelt würde. Das konnte ich ja nun positiv beantworten. „Der Hanni und mir geht es bei Janssens auch gut. Wir hatten Glück. Und dürfen gemeinsam immer mal wieder etwas unternehmen. Deshalb konnten wir heute auch mit Dawid hierher kommen. Die zwei sind ganz gewaltig ineinander verknallt.“
Also hatte ich richtig beobachtet und machte mir darüber einige Sorgen. Als wir dann wie immer zum Melken aufbrachen, schlug Hanni dem Dawid, Eva und mir vor, uns ohne die anderen schon am Sonn-tagmorgen hier zu treffen. Da wären die Bäuerinnen und ihre Familien alle in den Dorfkirchen. Wir alle vier seien ja katholisch, hätten in dieser Gegend keine Kirche und könnten es uns hier schön machen. Wa-rum nicht, dachte ich, und sagte zu. Die bisherigen Sonntage waren bis auf das Mittagessen und unsere Treffen danach stets reichlich öde. – Geschrieben am 10. August 1941.“


Klaudia klappte das tagebuchähnliche Notizbuch des Adam Nowak zu. „Das mag für heute wieder genügen, morgen geht es weiter.“ Claas nickte. „Und jetzt holen wir den Kuchen aus dem Kühlschrank, den ich be-sorgt habe, brühen einen Tee dazu und machen es uns noch ein bisschen gemütlich, bis ich dich nach Rosdorf bringe.“ „Holst du mich bitte morgen wieder so ab wie heute? Wir haben ja so viele Reste, davon mache ich uns ein neues Mittagessen.“