21.06.2022 - aktueller Autor - Dietmar Linke

etmar Linke
1944 in Breslau geboren. Theologie­studium an der Humboldt-Universität Berlin. 1971 bis 1978 Pfarrer in Meinsdorf/ Kreis Jüterbog. 1978 bis 1983 Pfarrer in Neuenhagen b. Berlin.
In dieser Zeit Zusammenarbeit mit kritischen Schriftstellern der DDR.
Mitbegründer der »Friedenswerkstatt« in Ostberlin. Im Dezember 1983 Ausbürgerung nach Westberlin.
Referent beim Gesamtdeutschen Institut.
1987 bis 1997 Pfarrer an der Kapernaum - Kirche in Berlin-Wedding.
Tätig als Publizist und Autor.

Auszug aus Bedrohter Alltag. Als Pfarrer im Fokus des MfS

 

Wie im Vergangenen das Künftige reift,
so modert im Künftigen noch das Vergangene.

Anna Achmatowa  
 
EINLEITUNG

Diese Bilder haben sich eingeprägt. Menschen versammeln sich in einer übervollen Kirche und ziehen von hier aus mit Kerzen auf die Straße. Die Sicherheitskommandos in den Seitenstraßen warten auf den Befehl zum Einsatz. Bilder von den Montagsdemos aus Leipzig und anderen Städten der DDR in den Wochen vor dem Fall der Mauer gingen um die Welt. Pfarrer und Gemeindekirchenräte hatten die Türen der Kirchen geöffnet. Diese Momentaufnahmen spiegeln auch die Rolle der Kirche wider.
Davon hatten einige Ideologen in diesem Land geträumt: Kirche als Rudiment einer vergangenen Gesellschaftsordnung wird es in der sozialistischen Gesellschaft, die wir aufbauen, nicht mehr geben. Aber es gab die Kirche, gab Suchende und Fragende und die, die Verhältnisse verändern wollten. Die Kirchen boten einen Freiraum. Es war der einzige Freiraum in der vom Totalitätsanspruch der SED geprägten Gesellschaft.
Durch den Fall der Mauer ist die DDR eine Epoche der Geschichte. Andererseits hat uns diese Gesellschaft geprägt und Spuren hinterlassen, die über das Ende der DDR hinaus wirken. Die Erinnerungen derer, die diese Geschichte miterlebt haben, sind sehr unterschiedlich. Sie sind geprägt von dem Ort und von den jeweiligen Erfahrungen.
Ich war Pfarrer in der DDR von 1971 bis 1983 in zwei unterschiedlichen Gemeinden. Nach dem Theologiestudium habe ich mit Freude und Engagement den Dienst begonnen. Ich wollte nicht ein Amt verwalten, sondern den Freiraum Kirche erlebbar machen. Willkommen waren alle. Die Offenheit und das Vertrauen, das meine Frau Barbe und ich den Menschen entgegenbrachten, haben wir auch selbst erfahren. Dem offenen Gespräch wollten wir Raum geben, unterschiedliche Meinungen und Positionen gelten lassen.
Ende der Siebziger-, Anfang der Achtzigerjahre entstanden unter dem Dach der Kirche die ersten Basisgruppen, die sich mit Fragen der Wehrdienstverweigerung, der Friedenserziehung und der Bewahrung der Schöpfung auseinandersetzten. Eine wichtige Frage war: Was können wir tun, um uns der immer stärker werdenden Militarisierung der Gesellschaft entgegenzustellen? Menschen aus den verschiedensten Schichten der Bevölkerung kamen miteinander ins Gespräch. Eine Zuspitzung erfuhr diese Frage, als 1983 bekannt wurde, dass in Ost und West Raketen stationiert werden sollten. „Was können wir dagegen tun?“, fragten wir. Wir wollten den Weltfriedenstag, den 1. September 1983, zum Anlass nehmen und mit einer Lichterkette zwischen der US-amerikanischen Botschaft und der Botschaft der UdSSR in Ost-Berlin symbolisch zum Ausdruck bringen, dass die beiden Supermächte wieder miteinander reden müssen. Mit dieser Aktion verließen wir den Schutzraum Kirche und gingen auf die Straße. Damit überschritten wir die abgesteckte Grenze. Kirchenvertreter und Staatsfunktionäre waren irritiert und nervös. Was damals begann, fand 1989 in Leipzig, in Ost-Berlin und anderswo seine Fortsetzung.
In meinem 1988 erschienenen Buch Niemand kann zwei Herren dienen schildere ich meine Erfahrungen, die ich als Pfarrer in der Gemeindearbeit und der Gesellschaft der DDR gemacht habe. Ich berichte von Situationen und Konflikten, deren Ursachen unerklärlich waren. Die Existenz der Staatssicherheit als Schild und Schwert der Partei war uns bekannt; seine Mitarbeiter lebten von der Konspiration, vom Agieren im Verborgenen. Wir ahnten, dass diese konspirativen Kräfte am Werke waren. Durch die Öffnung der Archive der ehemaligen DDR nach der Wende erhielt ich Antwort auf viele offene Fragen.
In diesem Buch erzähle ich von Chancen und Grenzen im Pfarramt, aber auch von den Akteuren, die im Verborgenen tätig waren. 1993 begann ich mit der Einsichtnahme in unsere Akten, die die Mitarbeiter der Staatssicherheit der DDR über meine Frau Barbe und mich angelegt hatten. Die Akten liefern wichtige Hintergrundinformationen. Gegen Feinde der Republik waren alle Mittel recht. Die zielgerichteten und planmäßigen Menschenrechtsverletzungen sind dokumentiert und seit der Öffnung der Archive einsehbar.
Die Diskussionen über die Rolle des Staatssicherheitsdienstes nach Öffnung der Archive regten mich an, die Einflussnahme des Staatssicherheitsdienstes auf die kirchliche Arbeit und auf unser Leben darzustellen. Dabei haben die über uns angelegten Akten aus den MfS-Archiven, aus den Archiven des Rates des Kreises und des Bezirks, aus dem Evangelischen Konsistorium Berlin-Brandenburg, eigene Unterlagen und Erinnerungen einen Niederschlag gefunden. An einzelnen, chronologisch geordneten Beispielen aus der pfarramtlichen Arbeit werden die Rolle und der Einfluss des MfS im Zusammenspiel mit den anderen staatlichen Dienststellen beleuchtet. Zugleich wird das Bemühen des MfS aufgezeigt, die Kirchenleitung zu instrumentalisieren.
Zweiundachtzig Inoffizielle Mitarbeiter (IM) habe ich in unseren Akten gezählt, die von 1971 bis 1983 in unserem Umfeld tätig waren. Diese Zahl sagt nichts über den Wert der Informationen und über den Aktionsradius der Informanten aus. Es gab diejenigen, die beauftragt waren, über uns über einen längeren Zeitpunkt zu berichten. Es gab andere, die peripher in konkreten Situationen zum Einsatz kamen, aber auch diejenigen, die von sich aus dem MfS Informationen lieferten. Von einigen habe ich ergänzend die IM-Akten gelesen, die unter anderem einen Aufschluss über die Hintergründe der Werbung des IM und seinen Aktionsradius geben. Es tauchen Gesichter auf, denen wir vertrauten und die unser Vertrauen missbrauchten. Auch von ihnen wird in diesem Buch die Rede sein.
Die Kirche in der DDR gab es nicht. Kirchliches Leben und Christsein waren auch in der straff politisch-ideologisch strukturierten Gesellschaft der DDR bunt und vielfältig. Der pfarramtliche Alltag wurde sehr stark durch die jeweilige Amtsperson, die Gemeinde und durch die örtlichen Bedingungen geprägt. Natürlich waren alle, die in der Kirche tätig waren, in besonderer Weise im Blickfeld der staatlichen Organe. Es gab diejenigen, die den klar abgegrenzten Kultraum nicht überschritten haben, und die anderen, die durch Aktivitäten den Raum ausweiten wollten. Aber es gab auch diejenigen, die sich instrumentalisieren ließen und mit dem MfS zusammenarbeiteten. Die Staatsorgane analysierten kontinuierlich die Verhaltensweisen der Pfarrer in ihrem Einzugsbereich. So meldet zum Beispiel der Stellvertreter für Inneres beim Rat des Kreises Strausberg im April 1982 dem Rat des Bezirks Frankfurt/O., es gäbe im Kreisgebiet Strausberg sechs „progressive“, fünfzehn „schwankend loyale“ Geistliche, sechs „Geistliche mit kritischer Distanz“ und zwei „ausgesprochen reaktionäre“. Unter der letzten Rubrik wird mein Name genannt.  Auf der Grundlage dieser Analysen wurden Vorschläge für den künftigen „Differenzierungsprozess unter kirchlichen Amtsträgern“ erarbeitet.
Auch wenn ich die genannte Analyse nicht teile, so muss ich aus eigener Erfahrung feststellen, dass die politischen Posi-tionen im Pfarrkonvent breit gefächert waren. Nicht alle, die im pfarramtlichen Dienst tätig waren, sind ins Spannungsfeld des MfS geraten. An den als „reaktionär“ eingestuften Personen hat das MfS im Zusammenspiel mit der offiziellen staatlichen Ebene Exempel statuiert. Wie das geschah, davon will ich berichten.