22.01.2023 - Autorin des Tages - Barbe Maria Linke

Barbe Maria Linke, Berlin
Der erste September

Die Augen auf die Großmutter gerichtet, will das zehnjährige Mädchen wissen: „Wie war das, wieso seid ihr von Ost- nach Westberlin ausgewandert?“
Die Frau mit dem kurz geschnittenen dunkelbraunen Haar und dem Namen Carla lehnt vor dem bodentiefen Fenster. Sonnenstrahlen tauchen den Kiefernstamm, auf den sie sieht, in ein warmes Rot. Das Lichtspiel fasziniert Carla. Doch jetzt schreckt Maris Frage sie auf. Sie muss nicht nachdenken. Das Ereignis, nach dem die Enkeltochter fragt, ruht klar in ihr, wie der Augapfel des Kindes, in den sie blickt.
„Der 1. September 1983 ...“  
Mari, die am Tisch sitzt und malt, hebt den Kopf. „Was war denn los am 1. September? Erzähl doch, Omi!“ Geräuschvoll zieht das Mädchen die Nase hoch.
Das ist lange her, will die Großmutter abwehren, doch sie weiß, wie konsequent Mari weiterfragen wird. Womit beginnen? Und was hab ich schon erzählt?
„Ist doch egal“, unterbricht Mari ihre Gedanken.
Beginne ich mit dem Fest, dem Endspiel? Carla schließt die Augen. Da ist es wieder! Das Menetekel, die Schrift auf militärgrünem Stoff. Und deine Kinder ...

Es ist der 1. September, der Weltfriedenstag. Carla hockt auf einer Holzbank im Einsatzwagen der Sicherheitspolizei. Inzwischen sind es fünf Personen, die auf den Wagen mit laufendem Motor geprügelt werden, die zwei Uniformierte bewachen. Sie sollen nicht miteinander reden!
Carla gegenüber Job, der Vater ihrer Kinder. Als er heraufgeprügelt wird, möchte sie schreien: Wieso hast du dich nicht verpfiffen, nachdem du gesehen hast, dass sie mich ... Wieso bist du nicht wie Frank weggerannt? Sie senkt den Kopf, will Job nicht in die Augen sehen.
Ich will nicht in den Knast!, möchte sie schreien. Jetzt hockt sie hier. Es gibt kein Entrinnen. Vor ihr der Vater ihrer Kinder.
Die Großmutter ist zusammengezuckt. „Hab ich laut gesprochen, Kind?“
„Spannend, Omi! Erzähl weiter!“ Ungeduldig kippelt Mari mit dem Stuhl, auf dem sie sitzt.
„1983 war ich vierunddreißig Jahre alt. Eine nervöse Zeit. In der Bundesrepublik sollten Cruise Missile und Pershing-Raketen stationiert werden. In der DDR, in der wir lebten, SS-20 Raketen. Das sind Atomsprengköpfe, die aufeinander gerichtet waren. Job und ich waren dagegen. Wir arbeiteten in unterschiedlichen Friedensgruppen, überlegten, diskutierten bis zum frühen Morgen. Wir wollten verhindern, was nicht aufzuhalten war. Die Stationierung von Mittelstreckenraketen in Europa. Irgendwie waren wir besetzt von der Idee zu protestieren und dagegen aufzustehen. Wir wollten den Regierenden zeigen: Wir sind nicht einverstanden mit dem geplanten Mord. Uns schwebte vor, die Großmächte, USA und Sowjetunion, reichen sich die Hände, beginnen miteinander zu reden. Danach vernichten sie den ganzen Schrott, der umfunktioniert werden kann für eine friedliche Nutzung.
Das war auch der Anstoß in jenem Sommer für eine Fastenwoche. Wir wollten uns mit den Protestbewegungen weltweit vernetzen, nicht Alleinkämpfer bleiben. Da es in dem Land, in dem wir lebten, keine Öffentlichkeit gab, gingen wir auf Kirchenvertreter zu mit der Frage nach einem Raum für diese Aktion. Eine Kirche in Berlin am Nöldner Platz schloss dafür ihre Türen auf. Beten und Fasten für den Frieden. Das gefiel einigen Kirchenoberen nicht, die sich an die Tafel zu den Mächtigen gesetzt hatten. ‚Das gute Verhältnis zwischen Staat und Kirche sollte nicht von solchen Aktionen ge-fährdet werden‘, hieß es.“
„Ihr solltet brav sein!“, lacht Mari, die jetzt vor Carla steht.
„Genau! Doch wir konnten nicht anders. Es war, als hätte ein Feuer uns erfasst, das lichterloh brannte.“
Der Abend vor dem 1. September …“
„Mach‘s nicht so spannend, Omi!“
„Per Buschfunk hatten wir an Sympathisanten durchgegeben: Am 1. September morgens um 7 Uhr bilden wir eine Lichterkette zwischen der US-amerikanischen Botschaft und der sowjetischen Botschaft. Diese Demo sollte ein Symbol sein: Wenn die Großmächte sich nicht die Hände reichen, dann tun es die Leute auf der Straße. Gleichzeitig wäre es das erste Mal nach dem Aufstand am 17. Juni 1953, dass Menschen wieder auf der Straße ihre Meinung zum Ausdruck bringen.“
„Wie viele wart ihr denn?“
„Eine Handvoll, vielleicht dreißig, maximal vierzig. Wir konnten ja nicht wie ihr heute eine Aktion bekannt machen. Es gab in diesem Land keine Möglichkeit, etwas zu publizieren. Es gab keine Presse- und Meinungsfreiheit. Das kannst du dir heute nicht mehr vorstellen, Mari.“
„Es klingt wie Science-Fiction …“
„Es war unsere Wirklichkeit.“
„Spannend, Oma!“
„Am Abend vor der Demo bekam ich plötzlich Schiss. Zum ersten Mal wollte ich, dass Job allein fährt. Erst am Abend kamen wir auf die Idee, Vollmachten für unsere drei Kinder zu schreiben und sie unseren Freunden zu bringen. Für den Ernstfall.“
„Was ist das denn, Omi?“
„Wenn wir verhaftet würden, sollten unsere Kinder bei unseren Freunden bleiben können, und nicht in ein Heim eingewiesen werden. Trotzdem war ich an jenem Morgen nervös, als wir im Trabi Richtung Friedrichstraße fuhren. Die Kinder waren wie jeden Tag zur Schule gegangen.
Ein nasstrüber Tag, so hab ich den 1. September in Erinne-rung, vielleicht stimmt das aber nicht. Ach ja, ich hab noch etwas vergessen.“
„Was denn?“
„Das Ganze würde doch nur einen Sinn ergeben, wenn die beiden Botschaften wüssten, worum es den Demonstrieren-den geht. Wieso wir uns vor ihrem Gebäude mit Kerzen in den Händen aufstellen. Also schrieb Job noch in der Nacht zwei Briefe für die Botschafter, die sie an ihre Regierungen weiter-leiten sollten.
Doch zurück zu jenem Morgen. Den Trabant parkten wir in einer Seitenstraße nahe dem Bahnhof Friedrichstraße. In den Nebenstraßen wimmelte es vor Polizei und Sicherheitskräften. Ich spürte kalte Angst, die mir den Rücken hochkroch. Job und ich fassten uns an den Händen, sahen uns nicht um, liefen zur US-amerikanischen Botschaft. Schon von Weitem er-kannten wir unsere Freunde.
Kameras haben die Szene festgehalten. Junge Menschen mit brennenden Kerzen, die sie mit den Händen schützen. Kaum stehen sie da, marschiert eine Einheit Uniformierter auf, die einem Befehl folgend sich auf die Demonstranten stürzen, sie den Boulevard Unter den Linden entlangtreiben. Wir versuchten, zusammenzubleiben, zündeten immer wieder die Kerzen an. Neben einer jungen Frau ein dreijähriges Kind. Beide wurden, wie wir, vorwärts getrieben.
Plötzlich bedrängt mich ein Uniformierter von hinten, ein anderer kommt von der Seite. Die Arme nach hinten gedrückt, stoßen sie mich auf den Fahrdamm, schubsen mich auf den bereitstehenden Einsatzwagen. Ich höre sie in meinem Rü-cken schimpfen. Dann höre ich einen Schrei: Was tun Sie mit meiner Frau!
Heute frage ich mich, wieso bin ich nicht fortgelaufen?, Mari. Ging alles wirklich so schnell? War ich paralysiert? Gibt es das, dass du folgst, obwohl du weglaufen solltest?
Das hab ich schon erzählt, wie dein Großvater ebenfalls auf den Lastkraftwagen geprügelt wurde, und wie entsetzt ich darüber war. Denn ich kannte das Strafgesetzbuch. Sechs bis acht Jahre Gefängnis standen uns bevor. Zu oft hatten wir der Staatsraison zuwider gehandelt. Doch es gibt Glücksumstän-de, an die du in solchen Sekunden nicht denkst.
Aber etwas sehr Wichtiges hab ich durch dieses Ereignis erfahren.“
„Was denn, Omi?“
„Wie an jenem Morgen die Rollläden an den Schaufens-tern hoch gingen. Wie eine Frau zu einer anderen Person sagt: Was ist denn hier los? Wieso treiben sie die wie Vieh vorwärts? Was woll‘n die überhaupt auf der Straße?
Noch heute seh ich die Hand, die auf uns zeigt. Und ich begriff in Sekunden, alles ist gleichzeitig da. Alles ist möglich, wenn du wegsiehst. Du musst dich entscheiden, wofür du einstehst. Menschen werden neben dir abgeführt, und du gehst deinen Geschäften nach. Ein einziger Augenblick hat mir die Augen geöffnet und mir gezeigt, wie das Leben ist.“
„Wie denn, Omi?“
„Alles geht weiter. Ob jemand neben dir stirbt, ob jemand verhaftet und auf einen Wagen geprügelt wird. Es gibt keinen Aufschrei.“
„Aber dein Mann hat doch geschrien!“
Carla zieht das Mädchen an sich. „Das ist wahr.“
„Siehst du!“ In Maris Augen Tränen. „Komm! Die Sonne scheint. Ich möchte schaukeln!“
Sie rennen um die Wette. Mari kickt eine Kastanie vor sich her. Die Großmutter trägt bordeauxrote Schuhe, beobachtet eine Amsel, die unter einen Strauch hüpft.  
Am Abend, nachdem Mari mit offenem Haar und geröteten Wangen im Bett liegt, fragt sie: „Und wie seid ihr nun in den Westen gekommen?“
Carla will gerade sagen, die Geschichte geht ja weiter. Doch das Kind ist eingeschlafen. Ein langer Ferientag. Viermal sind sie um den Teich gerannt, haben sich mit Laub und Kastanien beworfen. Mari hat sich hinter einer Eiche versteckt und gekichert, als Carla vor ihr stand.
 


Linke, Barbe Maria


Barbe Maria Linke


geboren in Köslin/ Pommern, aufgewachsen in der DDR. Arbeit in verschiedenen Berufen. Theologie -  Studium an der Humboldt-Universität in Ostberlin.
Die erste Pfarrstelle, in der ihr Mann Dietmar Linke und sie arbeiteten, war Meinsdorf-Wiepersdorf. Wiepersdorf ist bekannt durch die Dichterin Bettina von Arnim, die Frau, die an Goethe und an den König schrieb.
Nach dem 2. Weltkrieg wurde das Gutshaus der Arnims, ein Aufenthaltsort für Kulturschaffende der DDR.
Hier lernt sie Maxie und Fred Wander kennen. Diese Freundschaft hat Barbe M. LInke geprägt.
Politisch tätig war sie in den Gruppen Frauen für Frieden. Und Friedenswerkstatt Ostberlin.
Im Dezember 1983 wurde die Familie aus der DDR ausgebürgert.

Barbe Maria Linke lebt in Berlin, schreibt Gedichte, Essays, Erzählungen, Romane.
Sie sagt: Den Gedanken eine Form geben. Sie einfangen, wie einen Fisch. Den Fisch füttern, um ihn frei zu lassen.