24.05.2022 - aktueller Autor - Heribert Rück


 

Heribert Rück

wurde am 25. April 1930 in Marienbad im westlichen Sudetenland geboren.
Er war 20 Jahre lang Professor an der Universität Koblenz-Landau. Sein wissenschaftliches Werk umfasst zahlreiche Bücher und Beiträge zur Romanistik und deren Didaktik. Im Ruhestand wendet er sich einer lebenslang gehegten Neigung zu, der literarischen.
"Wege und Zeichen" war sein erster Roman. Heribert Rück verstarb 2019

Eines Morgens fandest du dich in einem fremden Bett und wusstest nicht, wie du dahin gekommen warst. Dein überraschtes, ungläubiges ‚Wo bin ich?’ Dein Blick zu den weinroten, das Fenster verhüllenden Gardinen, zu dem breiten Wandbild am Fußende, und, zur Seite dich wendend, zu einer nackten Frauenschulter, die, von kastanienbraun-rötlichem Haar zur Hälfte verdeckt, sich sanft bewegte. Atem einer Schläferin.

Doch sei versucht, die Begebenheiten in eine Art Ordnung zu bringen, und wenngleich nicht fein aufgefädelt in der Zeit, zuerst dies und dann jenes, Schulschreibe, so doch geordnet irgendwie, denn wer mag Chaotisches lesen? Und dass jemand irgendwann es liest, bleibt zu hoffen und zu erwarten. Denn ist nicht der Sinn jeglichen Erzäh-lens eben dieser: Jemand erzählt etwas jemandem? Nur der Verwirrte redet mit sich selbst. Nicht Selbstgespräch also soll es sein, das durchaus chaotisch sein dürfte und es meistens auch ist, erzählt soll vielmehr werden, dem, sagen wir, unbekannten Leser. Dir.

Seltsam, diese Jahre, die Fünfziger. Erfüllt von Aufbruch, und darunter dies Ungesagte, Ungedachte, wabernd unterm Spiegel. Skelett im Schrank, den Schrank zu öffnen, man tat es nicht. Es könnte einen anstarren aus leeren Augenlöchern. Wo war das reflexartige Heben des Arms zum Gruß, wo, wann war das? Längst hob keiner mehr den Arm. Man trug Hut, auch du als Student trugst Hut, wenn du durch die Straßen gingst, zogst den Hut zum Gruß, man stelle sich das vor, ein Student zieht vor einem Mitstudenten den Hut! Und blieb man stehen, um mit einem zu reden, dann siezte man ihn, den Herrn Mayer, den Herrn Kunz. Beschäftigt alle mit dem Gegenwärtigen, dem Zukünftigen, dem Vorankommen. Dahinter das Vergessen: Verdrängt das Flattern der Fahnen, der Klang der Fanfaren, das Brennen, der Brand. Wo, wann war das? Verweht. Flüchtige Erinnerung an ein Radiokästchen, aus dem die Siegesmeldungen dröhnten, die ölige Stimme des Propagandaministers, Kunde vom Endsieg. An seiner statt ausgebrütet unterm Schutt ein riesi¬ges, lackglänzendes Tongerät Marke Grundig, stoff-bespannt, leuchtend, Inbegriff von Geborgenheit am noppenbespannten Sofa. So stand’s bei den Eltern in der zur Wohnung umgebauten Werkstatt, wo Ordnung herrschte und wo es immer so gemütlich roch. Die rheinische Stimme des Kanzlers, zu Kaffee und Torte von neuer Wehrhaftigkeit kündend. Gestanzte Worte in schlichter Grammatik. Hörspiele von Eich und Andersch, Musik von Orff und Egk. Und dies kärgliche Leben eines Studiosus, der auf engstem Raum seine Bücher auf dem Boden sta¬pelte, sich von Kartoffeln und anderem Billigproviant ernährte und, wenn auch mühsam, so doch nicht unfroh, Kraft fand, seinen Studiker-Pflichten zu ob-liegen.
Einmal tat sich der Schrank momentweise auf, das Skelett starrte hervor. Es war, als du nach Frankreich tramptest. Die Franzosen waren nun Freunde, du liebtest die Sonne der Provence, den Geruch von Lavendel und Thymian, es war die Zeit, als der Bauer vom Land kommend noch seinen Esel am Cours Mirabeau an die nächste Platane band. Und der dich mitnahm Richtung Aix in seinem Peugeot 404, er war Lehrer am Lycée, so verriet er. Verstandest ihn mit deinem Schulfranzösisch durchaus, er plauderte munter, doch als er merkte, du seiest Deutscher, meinte er mit verändertem Ton: Ah bon?, das hätte er sich nicht träumen lassen, dass er einmal einen Boche ... und verstummte. Und setzte dich auf dem näch-sten Parkplatz ab. Descendez. Ein Frösteln. War das die neue Freundschaft? Bis dahin schien es denn doch noch ein langer Weg.