27.06.2022 - aktueller Autor - Wendelin Mangold

 


Wendelin Mangold

 

Wendelin Mangold wurde in der ehemaligen Sowjetunion geboren, wo er gelebt, gearbeitet, studiert und viele Jahre danach Deutschlehrer ausgebildet hatte, bis er 1990 nach Deutschland übersiedelte und anschließend 17 Jahre bei der Seelsorge für Spätaussiedler als Sozialarbeiter tätig war. Somit war er doppelt von der Aussiedlerproblematik betroffen: als Person selber und durch die langjährige Betreuung seiner Landsleute. Die Gefühlslage der Aussiedler ist ihm daher besonders vertraut.
Seine besondere Begabung, kreativ, wortwitzig und originell zu schreiben und sich sprachlich, inhaltlich und formbewusst auszudrücken, macht den Reiz seiner poetischen Texte aus.

 

Veröffentlichungen im Geest-Verlag

MEIN STAMMBAUM

Aus purer Neugier ging ich den Spuren meiner Vorfahren nach bis zum Ursprung, als der Mensch vom Affen abzweigte vor Millionen von Jahren, und stellte dabei Verwandte auf allen Entstehung- und Entwicklungsstufen fest angefangen von Homo habilis und Homo erectus bis zum Homo sapiens. Von ihnen habe ich das Steißbein geerbt als Rudiment der Affenschwanzwirbel, die sich im Laufe der menschlichen Entwicklung über Jahrmillionen zurückgebildet haben, und das ich trotzdem jedes Mal schmerzhaft zu spüren bekomme, lande ich auf dem Gesäß oder kriege ich einen Tritt in den Hintern.

Übrigens heißt das Steißbein auf russisch копчик*. Ob nicht der euphemistisch verhüllende Ausdruck Копец тебе!** (wohl aus dem Rotwelsch stammend) statt des Конец тебе!*** daher rührt? Aber was ist das schon im Vergleich zu dem, was ich seinerzeit in neun Monaten im Bauch meiner Mutter erfahren habe: meine Verwandtschaft bis zur Amphibie!

Als unsere Tochter noch klein war und wir noch prähistorisch im kalten Russland lebten und ich eines Tages auf zu Eis gefrorenem Schnee ausrutschte und unglücklich auf dem ABC landete – wau, tat das weh! -, musste ich ein paar Tage das Bett hüten. Telefonierte jemand (nicht vergessen, drahtlose Telefongeräte waren damals noch Zukunftsmusik), nahm unsere kleine Tochter ab. Und sollte der Anrufende beharrlich sein, meldete sie kurz: Er kann nicht. У него болит попчик.**** Dabei verwechselte sie копчик (das Wort kannte sie altersmäßig noch nicht) mit попчик, was ja mit Popo verwandt ist und nichts mit Steißbein gemein hat, wenn auch sich in unmittelbarer Nähe anatomisch befindet.    

* russ. Koptschik  ** russ. Kopez tebe! (Das ist dein Ende!) *** russ. Konez tebe! (Das ist dein Ende!) **** russ. U nego bolit poptschik (Sein Popochen schmerzt ihm.)