Cornelia Eichner - Gretchen Keuner und die kleine Herberge (Literatur in schwierigen Zeiten)

Gretchen Keuner und die kleine Herberge

Gretchen Keuner fuhr gern Zug. Gestern war sie noch bei einer Ausstellung im Norden des Landes, heute Morgen kam sie viel zu früh am Bahnhof an, um den Zug in den Os-ten des Landes zu nehmen. Die Füße taten ihr vom vielen Bildergucken weh, also suchte sie nach einem Sitzplatz. Auf dem Bahnsteig fand sie einen Wartepavillon. Sie wunderte sich, seine Scheiben waren ganz beschlagen, man konnte nicht hineinschauen. Aber ein kleines Licht schien drinnen. Also öffnete sie die Tür und trat ein.
Auf einer Bank schlief ganz friedlich eine dunkelhäutige Frau mit sehr gewölbtem Bauch. Sie war umhüllt von Mänteln. Ihr gegenüber saßen Menschen, die schon länger keine Badewanne mehr gesehen hatten. Sie hatten sich aneinander gekuschelt auf die anderen drei Bänke und schauten still die Schlafende an. Neben der Tür wartete eine große Zahl Flaschen, leer getrunken zu werden.
Als Gretchen Keuner eintrat, erwachte die Frau. Ihr Lächeln erhellte den Raum, manche seufzten. Da sagte sie „Danke“ und gab die Mäntel an deren Besitzer zurück. Für Gretchen Keuner erklärte sie, dass sie gestern den letzten Zug verpasst hatte. Mit ihrem Wochenendticket erhielt sie dafür keinen Ausgleich von der Bahn, ein Hotel konnte sie sich nicht leisten, andere Möglichkeiten fand sie nicht. Hier hatte man ihr sofort ein sicheres Bett gerichtet und ein Brötchen gereicht.
Da sagte Gretchen Keuner „Moment!“, eilte davon und kam kurz darauf mit Kaffee und Brötchen für alle zurück.