Heike Suzanne Hartmann-Heesch - Der siebte Tag

Heike Suzanne Hartmann-Heesch
Der siebte Tag

In den ersten sechs Tagen schuf Gott Tag und Nacht, Himmel, Erde, Meer und Pflanzen, Sonne, Mond und Sterne, die Lebewesen des Meeres und die Vögel des Himmels, die Tiere des Landes und, natürlich, die Menschen. Dann ruhte Gott, nachdem er sein Werk vollendet, begutachtet, für sehr gut befunden und gesegnet hatte.
Seit Freitag beschleicht mich immer häufiger dies eine Gefühl: Das, worauf ich so sehnlich warte, ist vielleicht in der Schöpfung gar nicht vorgesehen.

„Wo schlafen Träume?“, fragte ich dich, als ich das erste Mal in diesem Jahr mit dir auf unserer Bank unter dem kleinen Apfelbaum am östlichen Ende des Krankenhausgeländes saß. Es war ein lausig kalter Aprilabend, viel zu kalt eigentlich, um draußen zu sitzen; wir taten es dennoch. Die Sonne war eben untergegangen, und der Wind wehte kühl. Aber vielleicht hast du mich gerade deswegen nach dem Abend-essen fast nach draußen genötigt, hast meinen Protest, oben auf dem Zimmer bleiben zu wollen, mit dem Satz „Du brauchst jetzt endlich frischen Wind um die Nase!“ abge-schmettert. „Los, wir gehen Sterne gucken!“, sagtest du in einem Tonfall, der keine Gegenrede zuließ – zu oft schon hattest du mein selbstmitleidiges Lamento Ichkannsowie-sonichtmehrselbergehen gehört – und legtest schon mal ein Kissen auf den Sitz des Rollstuhls. Die ganzen frostigen und verschneiten Wintermonate lang bin ich kaum einmal von der Station runter und nach draußen gekommen, schon gar nicht, um Sterne zu gucken; das Prozedere des rollstuhlgerechten warmen An- und später wieder Aus- oder Umziehens hatte mich stets so sehr angestrengt, dass ich mich bereits vor dem Rausgehen so verausgabt gefühlt hatte wie im gesunden Leben nach einem 1000-m-Lauf. Auch ein mo-biles Flüssigsauerstoffgerät mussten wir immer schon mit-nehmen, war ich doch seit weit über einem Jahr auf zusätzlichen Sauerstoff angewiesen.

Gottes Raumluft allein genügt nicht mehr. Ich genüge nicht mehr. Meine Lunge nicht. Ich benötige eine neue.

„Wo schlafen Träume?“, wiederholte ich meine Frage.
„Könnte sein, auf den Wolken“, antwortetest du. Einige Minuten saßen wir schweigend in der Kälte des Abends. „Aber dann ziehen sie mit den Wolken davon, die Träume“, sagte ich leise. „Nein“, gabst du zurück, „wenn Wolken am Himmel tanzen, spielen Träume mit Wünschen Fangen, und manchmal setzen sie sich neu zusammen, so wie sich Wolken neu formieren und in anderen Formen und manchmal sogar Farben wieder für uns sichtbar werden.“

Unzählige Stunden hatten wir im ausklingenden Frühling und dem langen heißen Sommer des letzten Jahres gemein-sam auf dieser Bank verbracht. In dieser kleinen Oase der Schöpfung teilten wir unsere Hoffnung auf Leben. Ich bin so zuversichtlich gewesen in dieser ersten Zeit, im vollen Ver-trauen darauf, dass meine noch verbleibende Lebenszeit länger wäre als die Wartezeit auf das Spenderorgan. Ich spürte Leben, nicht Sterben, wenn ich mit dir auf der Bank saß, auch wenn sich meine Lebenswelt zunehmend und radikal verengte. Mein vorsichtiger Optimismus vertraute aber darauf, dass das für mich passende Organ bereitstehen würde; und Abend für Abend richteten wir unsere Bitten, die immer gleichen Bitten nach Mut, nach Zuversicht und Stärke leise gen Himmel; jeder leuchtende Stern schien die Erfül-lung nämlicher zu verheißen. Ich musste nur durchhalten, mein unbeirrbares Ziel vor Augen: Leben.
Als sich aber die Tage zu Wochen und die Wochen zu Monaten verlängerten, wurden im stetig trüber anmutenden Herbst Gottes Tage kürzer, die Abende dunkler und wolkenverhangener. Immer öfter schließlich fielen Tropfen wie Tränen von den zunehmend kahlen Ästen unseres Baums, wegen des Regens wurden unsere Besuche auf der Bank seltener, bevor die Monate mit Kälte und Schnee sie ganz un-möglich machten. Fast schien es, als wäre mit den letzten Blättern auch meine Hoffnung zu Boden gesunken, und während draußen ein glitzernder Schneeteppich die Reste des vergehenden Jahres bedeckte, legte sich auf mich eine Decke der Resignation und stillen Verzweiflung.

Gott schuf den Menschen zu seinem Bilde, zum Bilde Gottes schuf er ihn. So steht es geschrieben.

„Sind wir etwas Besonderes, weil wir zum Bilde Gottes sind?“, hatte ich gefragt und deine Antwort gar nicht abge-wartet. Als Gottes Ebenbild fühle ich mich längst nicht mehr.
Je mehr Zeit verging, desto deutlicher manifestierte sich meine Krankheit: Selbst vielerlei Kleinigkeiten des Kranken-hausalltags konnte ich nun nicht mehr allein bewältigen, ich wurde missmutig und ungerecht. Du schimpftest mich dafür, wenn ich verallgemeinerte, und meinte, einen beträcht-lichen Teil meines Menschseins bereits an der Kranken-haustür getauscht zu haben gegen eine Datei im System Klinik: Name, Antlitz und Befindlichkeit gegen Kenn-Nummer, Listenplatz und Laborwerte. Oft sah ich in mei-nem Zorn über die zunehmende Bedürftigkeit nicht, was jeder Einzelne der Menschen um mich herum ermöglichte, mich weiter Ich sein zu lassen, mir ein Gefühl von Vertraut-heit und Beständigkeit zu vermitteln, und manchmal konnte ich nicht einmal die Wärme und Zuneigung annehmen, die mir entgegengebracht wurden. Manchmal war einfach alles zu viel. Ich selbst wurde mir zu Zeiten zu viel, wenn mich die Angst vor der ungewissen Zukunft für Momente auffraß.

Auch heute waren die Äste des Apfelbaums über unserer Bank noch kahl. Obwohl nachmittags die Sonne hoch genug gestanden hätte, um uns dort an diesem Ostersonntag über die Gebäude hinweg durch das knorrige Geäst mit ihren Strahlen zu erreichen und ein wenig zu wärmen, entschiedst du, erst am Abend rauszugehen. Du wusstest um meine Angst, dass womöglich ein ganzes zweites Jahr lang alle unsere Spaziergänge zu diesem einzig schönen Ort führen würden; was ich dir aber noch nicht verraten hatte, war mei-ne Gewissheit darüber, so ein zweites Jahr körperlich nicht zu überstehen. Du wolltest also meinen ersten Schmerz lin-dern, indem du nicht in der Sonne mit mir zur Bank fuhrst; und dein eigener Schmerz traf dich umso unvermittelter, als ich unser Gespräch wieder aufnahm.
„Was, wenn jetzt doch meine Zeit ist zu gehen?“, fragte ich. „Spürst du das plötzlich doch so?“, fragtest du zurück, be-sorgter, als du mich merken lassen wolltest.
„Was“, fragte ich weiter, ohne dir zu antworten, „wenn auch jetzt immer noch für niemanden anderes Zeit ist zu gehen? Außerdem“, fügte ich leise und ein bisschen zynisch hinzu, „wenn ich leben darf, wird ja nicht nur einfach jemand ande-res gehen, dieser Jemand wird auch noch mein Abbild sein müssen: in Blutgruppe, Thoraxtiefe und -größe!“
„Kannst du dir nicht immer noch vorstellen“, fragtest du, „dass deine Lunge schon da ist? Dass sie auf dich wartet, wenn die Zeit kommt?“
„Das ist inzwischen bar jeglicher Vorstellungskraft. Es gibt doch keine Fülle! Und wann wird die Zeit sein? Sie ist so zählbar geworden und ich habe nicht mehr viel davon“, sagte ich leise. „Ich spüre mein Wenigerwerden jeden Tag stärker. Dieser Mangel und die Ungewissheit lassen mich so sehr wünschen, wünschen, wünschen. Ich werde noch irre!“
„Aber schau doch die Sterne, denk an unsere Bitten“, sagtest du endlich und deutetest mit deiner Hand in den Himmel, „du musst einfach weiter vertrauen.“ Tatsächlich blitzten zwischen den Wolken vereinzelt Sterne hervor, und wenn ich ein bisschen blinzelte, sah es fast so aus, als könnte ich einige von ihnen zwischen den Fingerspitzen kurz festhalten, ganz kurz nur; und genau in diesem Moment beschlich mich wie-der dies Gefühl: Das, worauf ich so sehnlich warte, ist vielleicht in der Schöpfung gar nicht vorgesehen.
„Du kannst immer nach den Sternen greifen, du …“
„Ich habe nach all der Zeit nur noch den einen Wunsch, weil alles andere davon abhängt“, unterbrach ich dich, „aber so oft ich es mir auch wünsche, ich kann keinen Einfluss nehmen“, sagte ich nun wirklich sehr leise; und für dich wohl nicht mehr hörbar fügte ich hinzu: „Außerdem ist heute wieder ein siebter Tag: Gott hat Ruhetag.“