Hoffnungsgeschichten: Ozan Akcil - Die Narben bleiben

Die Narben bleiben

Mein Name ist Yunis und ich wohne in Bagdad (Irak). Ich bin 14 Jahre alt und arbeite in einem Geschäft und verkaufe Obst. Es ist ganz schön heiß – sehr viele Menschen, viel zu tun und jede Menge Chaos. Ich habe mich an dieses Chaos gewöhnt und ich finde es normal.
Ich spaziere gerne in der Altstadt umher, weil es dort viele interessante Sachen zu sehen gibt wie Häuser, die durch den Golfkrieg  zerstört wurden, und vieles mehr. Mein Freund Amir und ich spielen immer sehr gerne in den Häusern Verstecken oder Fangen. Das macht sehr viel Spaß, weil es so viele Versteckmöglichkeiten gibt, wie zum Beispiel hinter einem Panzer oder in einer tiefen Grube. Die Erwachsenen sagen mir oft, dass es da gefährlich sei und alte Bomben vom Krieg dort sein könnten, aber das schreckt mich nicht ab. Der Ort erinnert mich an etwas Besonderes.
Eines Tages war ich allein an diesem Ort, Amir, mein bester Freund, ist nicht mitgekommen. Zum ersten Mal war ich allein. Irgendwie war es merk-würdig, so komisch. Ich hatte, glaube ich, Angst, Angst an einem Ort, wo ich eigentlich immer viel Spaß gehabt hatte. Ich erkundete die Häuser, in denen wir eigentlich nie drin waren, irgendwie wa-ren die Häuser interessant für mich. Ich ging in ein Haus rein, es stank ziemlich drin, aber ich sah viele Bücher. Ich guckte mir einige Bücher an. Lesen konnte ich dank Amirs Vater, er ist Lehrer an einer Grundschule und sehr freundlich. Er brachte mir das Lesen bei. Es lagen so viele Bücher hier herum, dass ich ein paar Stunden in diesem Raum verbracht habe.
Ich ging weiter spazieren in dem Haus und es wurde schon dunkel. Das war mir egal, ich wollte mehr sehen. Da sah ich einen Raum. Der Raum war sehr groß, größer als das Geschäft, in dem ich arbeite. Ich sah einen Spiegel und sah mich selbst. Ich guckte mir tief in die Augen, sah meine Narbe im Gesicht, ich wollte nicht dran denken, woher die Narbe kam. Ich wollte vielmehr das Haus erkunden. Ich ging weiter und sah ein Kinderzimmer, irgendwas stimmte mit mir heute nicht.
Es kam wieder eine Erinnerung hoch. Damals hatte ich auch ein Kinderzimmer, aber zwei bewaffnete Männer haben es zerstört. In mir kam die Wut heraus, ich versuchte, nicht dran zu denken.
Ich zitterte und ging langsam weiter, schaute aus dem Fenster. Da sah ich den Mond, der Mond war so schön wie nie zuvor. Ich starrte den Mond an und plötzlich sah ich Bilder. Ein Bild von früher, ich versuchte, es zu verdrängen, aber es kam immer wieder stärker zurück. Was hatten diese Erinnerungen mit dem Mond zu tun? Mir floss eine Träne runter, ich erinnerte mich an einen Tag. An einen der schrecklichsten, aber ich wollte einfach nicht dran denken. Ich starrte immer noch auf den Mond. Jetzt wurde mir klar, was an diesem Tag passiert war.
Es kamen komische Geräusche, die ich noch nie zuvor gehört hatte. Es war so laut, dass ein Ohr von mir geblutet hat. Alle rannten um ihr Leben und alles war am Brennen, aber ich fand das Leuchten irgendwie schön.
Und genau an diesem Tag war der Mond auch so schön. Mein Vater hatte mich in seinen Armen und er lief. Die Menschen auf der Straße schrien, was ich komisch fand. Mein Vater und ich gingen in ein leer stehendes Haus und er sagte mir: „Yunis, mein Sohn, ich will, dass du etwas Wichtiges tust!“ Irgendwie war er komisch. Ich fragte: „Vater, was soll ich tun und warum bist du traurig?“ Er antwortete erst mal eine Weile nicht. Es war alles in diesem Moment still, er guckte aus dem Fenster und sagte mir: ,,Du muss leider hier warten. Ich habe etwas zu erledigen, wo ich dich nicht mitnehmen kann. Ich muss dich verlassen.“ Das war das Letzte, was er zu mir gesagt hatte. Er gab mir einen Kuss auf die Stirn, wo ich einen Verband hatte, eine Wunde durch einen Splitter, der in meine Richtung geflogen war.
Ich habe die Erinnerung verdrängt und starrte nicht mehr auf den Mond. Ich habe aber irgendwie immer noch die Hoffnung, dass er wiederkommt, aber wann? Ich wollte das Haus verlassen und suchte den Ausgang. Es war irgendwie komisch, ich musste weinen. Langsam ging ich raus und spielte mit einem Stein. Werde ich irgendwann jemanden von meiner Familie wiedersehen? Aber die Hoffnung, dass ich jemanden wiedersehe, ist sehr stark und ich werde sie nie verlieren. Ich musste dran den-
ken, was Winston Churchill  gesagt hatte, was ich irgendwo gelesen habe: ,,Alle großen Dinge sind einfach und viele können mit einem einzigen Wort ausgedrückt werden: Freiheit, Gerechtigkeit, Ehre, Pflicht, Gnade, Hoffnung.“ Das gab mir in diesem Moment starke Hoffnung auf ein Wiedersehen.

Ozan Akcil (18 Jahre)