Jenny Schon - Cherub - Friederike Mayröcker ist am 4.6. gestorben

Jenny Schon


Cherub - Friederike Mayröcker ist am 4.6. gestorben
gewidmet nach Lesungen in Berlin
 (* 20. Dezember 1924 in Wien)


Wilderin in den Gängen der Grammatik Ich folge dir
Knarrende Dielen ausgetretene Stiegen Luft dick daß die Ohren dröhnen
Witterung aufnehmend und schon greifst du in den Raum
mit den unverbrauchten Wortstämmen

Ich traue mich nicht deine Spinnenbeinfinger zu streicheln
die Worte ergreifen als seien sie eine Beute
Jägerin selbst auf der Hut vor der Zerstörung der Zeit

Deine stockigen Glieder zerfallen Ein Schattenspiel
wenn das Licht schwindet Deine gläserne Sprache zersplittert mein Herz
Du fällst meinen Wortstamm Ich bin sprachlos Deine Zunge spaltet
mein Trommelfell Ich blute aus in deiner Kraft

Was übrig bleibt düngt eines Tages das Ruhebeet der Worte
Du signierst das Buch entwirrst dein Gerippe erhebst dich und
der Schatten Ernst Jandls folgt dir Ich gehe zum Kleistgrab nach Wannsee
die Selbsttötung der Dichtung betrauernd und du fährst nach Wien

Berlin läßt nicht locker Der Potsdamer Platz ruft dich
Sie sind wieder hineingewachsen deine Gebeine in die ausgelatschten Schuhe eures gemeinsamen Lebens So bereift bist du reisefertig

Die Wunden im Sand schließen sich Auf deinem Herzen trampeln
Touristen Noch immer Ernst Jandl am Lesetisch und du
sagst es war am Küchenfenster beim letzten Mal Es ist schwer
einen Mann auszukehren Auch die Berliner Stadtreinigung
hat keinen Container für Gedichte zwischen Hochhäusern

Der Verkehr für einen Abend beruhigt Ein kollektives Lauschen
deiner staubigen Stimme Knarrende Dielen beim Abgang -
Der Abendstern ist dem Cherub gewichen




aus: Jenny Schon, Fragen bleiben, Gedichte, Geest Verlag, 2020.