Jenny Schon: Ein kleiner Platz für Rudi Dutschke (Zum Attentatstag von Rudi Dutschke am 11. April)

Jenny Schon

Ein kleiner Platz
Für Rudi Dutschke (1)

Siebzig mal neunzig Zentimeter
Wahrlich ein kleiner Platz
Und wenn ich drauf
stehe immer noch
größer als jener, den
die Menschen in den Gaskammern
hatten...

Nach Auschwitz kein
Gedicht mehr
Daß wir dennoch schreiben
Verdanken wir dem
Kleinen Platz
Der keinen Namen
hat...

U es a es a es es
Hieß unser Gedicht
Ho ho ho chi min
Sangen wir an
Im Falsett
Gegen das Unaussprechliche
Unserer Väter
Die Duldsamkeit unserer Mütter
Gegen die Moral
Die uns keine schien -
Dann dieser Schuß
Im kalten April anno 1968
Unsere Generation
Trägt seitdem den Namen
Trägt den Hoffnungsschimmer
Der neuen Moral -

In dem Haus
Gegenüber dem Platz
Werden meine Neurosen
Besprochen
In der ehemaligen
Ruine der SDS-Zentrale

Ein Diagnostisches Zentrum
Im Bauhausstil jetzt
Nadelt mein EKG
Täglich begehe ich voller Dank

Bei meiner Bushaltestelle
Die acht Zeilen für die
„Persönlichkeit der Studentenbewegung“
Der „herausragenden“
Auf der siebzig mal neunzig
Zentimeter in den Kurfürstendamm
Eingelassenen Bronzetafel -

Bisher war für Millionen anderer
Opfer
selbst ein Nanometer
zu viel

Doch wir haben gelernt
Jetzt stolpern wir auch
Über ihre Steine (2)

aus: Jenny Schon, fus s volk, Gedichte in Bewegung, Geest Verlag, 2012

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Am Gründonnerstag 11. April 1968 wurde der Studentenführer und Mitglied des SDS (Sozialistischer Deutscher Studentenbund) Rudi Dutschke in Westberlin von dem rechten Arbeitslosen Josef Bachmann mit drei Schüssen lebensgefährlich verletzt, er starb an den Spätfolgen am 24.12. 1979.

2 Das Gedicht, das ich 1998 zum 30. Gedenktag schrieb, würde ich heute nicht mehr so verfassen, aber es war der Zeitgeist.