Wendelin Mangold: Marr und Stalin - Eine Parodie

MARR* UND STALIN
Parodie

Stalin schrieb ein paar Stichworte nieder. Darauf beorderte er einen namhaften Sprachwissenschaftler, der sie zu einem Traktat ausbreiten sollte. Dieser, von den Grausamkeiten Stalins mittlerweile wissend, wagte sich nicht, auch nur ein Wort zu ändern: „Genosse Stalin, Ihr Text ist genial und bedarf nicht der geringsten Korrektur!“ Damit war besiegelt sein Geschick – mit einer Kugel ins Genick. Darauf wurde ein zweiter Sprachwissenschaftler ungefragt herangezogen. Dieser, ebenfalls von Stalins Niedertracht wissend, dachte bei sich: Schreibe ich, geht der Kelch an mir womöglich vorbei. Damit war besiegelt sein Schicksal – in einem psychiatrischen Hospital. Dort hinter eisernen Gitterstäben schrie er: „Ich bin Stalin, ich lebe!“

*Nikolai Jakowlewitsch Marr, ein bedeutender georgisch-russischer Sprachwissenschaftler – soll 60 Sprachen beherrscht haben – hat eine Neue Lehre von der Sprache aufgrund der Japhetitentheorie entwickelt, was zu einer heftigen Diskussion in der sowjetischen Presse führte. Am 20. Juni 1950 veröffentlichte Stalin seinen Standpunkt dazu. Die direkte Beteiligung eines politischen Führers in Fragen der Sprachtheorie war beispiellos. Von nun an tanzten alle nur noch nach seiner stinkenden Pfeife.