Wenden-Anthologie für die Wesermarsch steht - Premierentermine - Beitrag von Ingrid Schnörwangen

Der Einsendeschluss für die Wesermarsch-Anthologie 'Wenden ist abgeschlossen'. Wir freuen uns ganz besonders, dass sehr viele Beiträge eingegangen sind, die nun zum Teil noch erfasst, ausgewertet und lektoriert werden müssen, bevor über die Aufnahme in die Anthologie entschieden wird. Besonders erfreulich ist, dass tatsächlich viele Erstschreiber sich erstmals mit einem Beitrag am literarischen Geschehen beteiligten.

Die Premierentermine für die Anthologie stehen auch bereits fest:

DO, 18.10., 19:30 Schiffahrtsmuseum Brake
SO, 21.10., 11:30 Heimatmuseum Nordenham
MI. 24.10., 19:30 Kulturmühle Berne..

 

Hier eine Beitrag vonIngrid Schnörwangen, der aufzeigt, von welcher Eindringlichkeit viele der eingereichten Erzählungen und Berichte sind:

 

Ingrid Schnörwangen, Großenmeer
Es war März

Es war im März 1944 und es war Krieg.  Ein furchtbarer Ingrid SchnörwangenZweiter Weltkrieg. Mein Bruder Helmut war 17 Jahre alt, groß und sehr sportlich. Irgendwann sagte er zu uns: Ich habe das Gefühl, dass viele Leute im Dorf mich anschauen und denken, warum ist er nicht an der Front? Helmut hat sich aus eigener Überzeugung freiwillig bei den Fallschirmjägern gemeldet. Dann ging alles sehr schnell. Die Einberufung kam. Meine Mutter hat am letzten Tag die Lieblingsspeise meines Bruders gekocht, Milchreis mit Zucker und Zimt. Für meinen Bruder Alfred und für mich blieb auch noch etwas übrig.
Nun kam der „große“ Tag für Helmut. Er hatte noch den jährlichen Turnabend vorbereitet und den Abend mit einer Ansprache eröffnet. Nach zirka einer Stunde gab mein Vater Helmut ein Handzeichen zur Bühne hin. Dieses Zeichen bedeutete, wir müssten jetzt nach Kleinensiel zum Bahnhof fahren. Von dort aus sollte die Fahrt mit dem Zug ins Ungewisse gehen. Meine Mutter, Alfred und ich nahmen Abschied – meine Mutter von ihrem Sohn, wir von unserem großen Bruder. Wir waren alle sehr traurig, doch wir Geschwister dachten nicht daran, dass wir Helmut nie wieder sehen würden. Mein Vater, der den Ersten Weltkrieg mitgemacht hatte und verwundet worden war, wusste genau, was Krieg bedeutet. Ein wenig beruhigt war er darüber, dass Fallschirmjäger eine lange Ausbildung benötigen. Er sagte: Bevor Helmut zum Einsatz kommt, ist der Krieg vorüber.
Mit einer solchen Äußerung musste man damals sehr, sehr vorsichtig sein. Niemand, dem man nicht vertrauen konnte, durfte sie hören. Denn ein halbes Jahr vorher war mein Vater sehr mutig gewesen. Es wurde von der SS für alle siebzehnjährigen Jungen ein Befehl herausgegeben, sie sollten sich „freiwillig“ zur SS melden. Vater hatte es Helmut streng verboten, dieses zu tun. Doch als Helmut nach einigen Stunden nach Hause kam, musste er meinem Vater gestehen, dass er selbst und viele andere Jungen sich doch freiwillig gemeldet hatten. Die Jüngeren wurden mit Aussagen wie „Du bist ein Feigling“ und mit vielen anderen Mitteln unter Druck gesetzt. Das hat meinen Vater so erbost, dass er die Vorkommnisse nach Berlin an die zuständige Stelle meldete. Dadurch hatte er sich in große Gefahr gebracht. Er musste nach Berlin fahren, und wir hatten große Angst, unseren Vater nie mehr wieder zu sehen. Meine Mutter war außer sich vor Sorge. Doch er kam wieder. Er hatte unseren Bruder aus dem „Vertrag der SS“ herausbekommen. Von diesem Vorfall haben wir in der Familie noch Unterlagen.
Doch zurück zur Abfahrt im März 1944 von Kleinensiel zur Einheit der Fallschirmjäger. Kurze Zeit später war die Invasion in der Nor-mandie. Anfang Juni wurde mein Bruder mit vielen Kameraden in der Nähe von Cherbourgh in die furchtbare und sinnlose Ungewissheit „abgeworfen“. Helmut starb am 21. Juni 1944 mit siebzehneinhalb Jahren. Ich war damals dreizehn Jahre alt.
Wir haben erst Jahre später die schreckliche Nachricht erhalten. Bis dahin galt mein Bruder als vermisst. Mein Vater hat unsagbar viele Nachforschungen unternommen. Auch diese Unterlagen sind in unserer Familie. Mein Vater hat den Tod meines Bruders nie verkraftet. Meine Mutter versuchte ihren großen Schmerz durch Erzählen über Helmuts kurzes Leben zu bewältigen. Doch wenn i,m Beisein meines Vaters der Name Helmut fiel, verließ er sofort das Zimmer. Ich war damals oft ärgerlich über meine Mutter. Sie wusste, dass mein Vater den Raum verlassen würde, wenn der Name Helmut angesprochen wird.
Erst nach vielen Jahren habe ich erkannt, dass ich meiner Mutter großes Unrecht angetan habe. Sie musste doch über ihren Sohn sprechen. Nur so konnte sie die große Trauer verarbeiten. Es gab damals keine Selbsthilfegruppen, keine Therapeuten für trauernde Familien. Alles musste der Betroffene alleine bewältigen. Meine Tante und mein Onkel haben in diesem furchtbaren Krieg ihre beiden einzigen Söhne verloren. Ein anderer Onkel kam völlig entkräftet und ausgehungert aus der Gefangenschaft zurück. Nur der Gedanke, seine Frau und seinen kleinen Sohn wiederzusehen, haben ihm die Kraft gegeben. Kurze Zeit später ist er gestorben.
Gott sei gedankt, im Mai 1945 war der Krieg zu Ende. Nie im Leben hätte ich damals gedacht, dass wir 67 Jahre in Deutschland in Frieden leben können. Ich wünsche mir so sehr Frieden auf der ganzen Welt.  Ich bin dankbar, dass meine Eltern 1954 ihr erstes Enkelkind in den Arm nehmen konnten. Es kamen noch sechs Enkelkinder auf die Welt. Meine Eltern haben durch das große Glück wieder Zuversicht und Hoffnung bekommen. Der große Schmerz über den Tod ihres Sohnes wurde durch die Enkelkinder milder.