17.02.2020 - aktueller Autor - Jos F. Mehrings


Jos F. Mehrings war nach seinem Jura-Studium in Münster einige Jahre als Richter in Oldenburg, danach bis zu seiner Pensionierung als Professor für Wirtschaftsrecht an der FH Münster tätig. Nach zahlreichen Fachpublikationen, u. a. einem Lehrbuch zum Wirt­schaftsprivatrecht, legt der Oldenburger nunmehr seinen ersten Roman vor.

Im Geest-Verlag erschienen.

Jos F. Mehrings: Niemand hat die Abschicht

Josef F. Mehrings

Niemand hat die Absicht

Roman

Geest-Verlag 2018

ISBN 978-3-86685-701-8

ca. 460 S., 14,80 Euro

 

Heinrich Kollmann ist der 57-jährige Bürgermeister der sauer­ländischen Gemeinde Malve, dessen kleine dörfliche Welt aus Hof, Ehefrau und Kindern bis dato vollkommen in Ordnung war. Als Bürgermeister hielt er zudem die Zügel fest in der Hand und hatte damit das Dorf uneingeschränkt im Griff.
Aufgrund einiger unvorhersehbarer und einschneidender Ereig-nisse gerät seine scheinbare Idylle innerhalb weniger Tage ins Wanken und Kollmann entwickelt sich zu einem tragischen Helden, der sich von all seinen gewohnten Strukturen löst und sich dabei lediglich auf seine 21-jährige Tochter Marie verlassen kann. Die dörflich-naive Jurastudentin in Münster, die sich nach einer blauäuig begonnenen großen Romanze mit dem revolutionären Che wenig später in einer noch größeren Enttäuschung wiederfindet, erweist sich neben dem Außenseiter des Dorfes, Epi, als seine einzige Stütze.
Ein Roman voller Sprachwitz und Poesie, aber auch Traurigkeit, garniert mit Ausblicken in die Zukunft, die heute schon der Vergangenheit angehört. Um die Figur Kollmanns entwickelt sich eine geradezu epische Erzählung, in der im Mai 1961 gleich mehrfach ein historischer Satz fällt, der nur kurze Zeit später im anderen Teil Deutschlands in ganz ähnlicher Weise zu hören ist: „Niemand hat die Absicht .."

 

Auszug

Vier Tage bevor Bürgermeister Kollmann den Brief erhalten sollte, saß dessen Tochter Marianne, die sich „Marie“ nannte und auch so gerufen werden wollte, in der Vorlesung: „Sachenrecht: Recht der beweglichen Sachen.“ Für sie war das aber nichts Bewegliches, das war totes Zeug. Wen interessierte schon „das Einigsein im Zeitpunkt der Besitzverschaffung“?
Da konnte man sich doch nur einig sein, dass sich dieser Unsinn keinen Besitz über einen verschaffen sollte. Dazu dieses Getue des sich alert gebenden Professors.
„Tja meine Herren, ähm Damen natürlich auch, da fängt es ganz allmählich an ähm interessant zu werden, wenn wir dann ähm das antizipierte Besitzkonstitut ähm hinzunehmen. Denn sehen Sie, meine Herren, ähm schon haben wir ähm die Möglichkeit geschaffen, um damit meine Herren ähm ähm ähm …“
Marie hatte nicht nur wegen der vielen Ähms und der fehlenden Damen abgeschaltet und begonnen, ihre Umgebung genauer zu betrachten. Schräg vor ihr saß Anneliese, die halbhöhere Tochter aus besserem Hause, die eine Beschäftigung in einer der führenden Kanzleien des Münsterlandes schon sicher hatte, falls sie das Examen schaffen sollte.
Das war aus heutiger Sicht immerhin nicht auszuschließen, doch musste bis dahin wohl noch manche Mark zum Repetitor getragen werden, und vielleicht war ein wenig professionelle Hilfe bei der Erstellung der Examenshausarbeit eine gute Investition in die Zukunft.
Tatsächlich sollte sich später ein gewisser Jürgen Miester finden, der wertvolle Hilfe bei der Anfertigung der Sechs-Wochen-Arbeit leistete und alle in ihn gesetzten Hoffnungen vollumfänglich erfüllte. Dass sich die von ihm gesetzten Hoffnungen auf eine Anwaltskarriere als angeheirateter Juniorpartner in einer der führenden Kanzleien des Münsterlandes nicht erfüllen sollten, stand freilich auf einem anderen Blatt.
Annelieses Interesse an ihm war jedenfalls unmittelbar nach der Abgabe der Hausarbeit zunächst unmerklich, dann immer stärker zurückgegangen, und nachdem sie zwei Monate später das „vollbefriedigende“ Ergebnis ihrer, besser seiner Hausarbeit erhalten hatte, erlosch es vollends.
Da der „kluge kleine Miester“ – wie Anneliese ihn wegen seines stoppeligen Haarschnitts in Anlehnung an den „Kleinen grünen Kaktus“ der Comedian Harmonists spöttisch nannte – nun nicht mehr von Nutzen war, gab er das perfekte Bauernopfer ab, zumal er von einer ganz kleinen Hofstelle in der Nähe von Havixbeck stammte.
„Nichts gegen ein gewisses Maß an Dankbarkeit, aber alles in Maßen“, pflegte Anneliese zu sagen. Dass sie ihn während der Bearbeitungszeit „zweimal ein wenig rangelassen hatte“, war – wie es sich bei einer Arbeit aus dem allgemeinen Verwaltungsrecht gehörte – verhältnismäßig, also erforderlich, geeignet und angemessen gewesen, musste aber auch ausreichen. Eine lebenslange Zusatzrente für den kleinen Miester im großen Anwaltsbüro ihres Vaters saß jedenfalls nicht drin!
Dieses strategische Vorgehen von Anneliese war schon sehr ausgefeilt. Durchaus bemerkenswert war auch, dass sie unentwegt redete und dabei mit der Zunge dachte, weil sie sich nicht die Mühe machte, ihr Gehirn einzuschalten, bevor sie losplapperte. Davon abgesehen, war Anneliese etwa so interessant wie dieses Besitzinstitut oder wie auch immer das Ding heißen mochte, an dem sich der Professor zusehends mehr und mehr ergötzte.
§§ 930, 868 BGB schrieb er mit Kreide an die große Tafel, wobei sich die Kreidereste wie immer auf seinem dunklen Anzug wiederfanden.
‚Warum nicht‘, dachte Marie, ‚ich kann ja mal versuchen, die beiden an der Tafel stehenden Zahlen im Kopf zu multiplizieren‘, denn sie liebte solche Aufgaben.
„Die Liebe zu den Zahlen“, wie ihr kauziger Mathematiklehrer Hieve auf dem Gymnasium in Menden ihre Begabung halb staunend, halb ungläubig – „ungewöhnlich, ganz und gar ungewöhnlich für ein Mädchen!“ – genannt hatte, war schon etwas Besonderes gewesen.
Der Mathelehrer hatte es im Übrigen wahrhaftig nicht leicht gehabt, bei einer aus 19 Mädchen bestehenden Klasse, von denen viele deutlich mehr Interesse an allen anderen Fä-chern als an Mathe zeigten.
Marie erinnerte sich: Herr Hieve hatte der Klasse mithilfe eines von seiner Frau eigens zu diesem Zweck gebackenen runden Apfelkuchens zu erklären versucht, dass zwei Hälften genau gleich groß seien.
Er sah aber in viele skeptische Gesichter und sich Fragen wie „echt?“, „wirklich immer?“, „tatsächlich genau gleich groß?“ und Vorbehalten wie „aber, ich meine doch, dass“ und „das glaube ich so nich“ ausgesetzt. Schließlich resignierte er: „Ich wusste, dass die größere Hälfte von euch das sowieso nicht versteht.“ Außer Marie hatten damals nur fünf weitere Mädchen gekichert, den anderen war die unfreiwillige Pointe entgangen.
In einem anderen Fall hatte Herr Hieve es aber auch wirklich übertrieben. In einer Klassenarbeit ging es in ein und derselben Aufgabe um Bruchrechnung und Prozentrechnung. War schon die Bruchrechnung ein Buch mit mindestens sieben Siegeln, war die Prozentrechnung ein solches mit 70. Und wenn man beides kombinierte, kamen sicher 10 Prozent oder sogar noch mehr dazu.
Wie und wozu sollte man um Gottes willen ausrechnen, wie viel Prozent 3/8 waren, wenn man nicht einmal wusste, wovon? Bis auf sechs Mädchen, eines davon Marie, waren alle anderen, 13 an der Zahl, mit Pauken und Trompeten durchgefallen.
Nachdem Herr Hieve anlässlich der Rückgabe der Arbeit frustriert erklärt hatte, dass fast 70 % durchgefallen seien, erklang aus der hintersten Reihe ganz leise und ungläubig die Stimme von Gretel Bockmann: „Aber so viele sind wir doch gar nicht.“.
Ja, so war es auf der Schule gewesen. Aber jetzt wollte Marie sehen, was heute noch ging.
Also: 930 mal 868. Das ergab … mein Gott, das hatte sie vor zwei Jahren auf der Schule doch immer so gut gekonnt. Führte das Jurastudium tatsächlich „systemimmanent in die Verblödung“, wie es diese kommunistischen Agenten den Erstsemestern anlässlich der „alternativen Erstsemestereinführung“, zu der Marie ganz aufgeregt gegangen war, erzählt hatten?
Damals war dieser Junge auch dabei gewesen, der jetzt rechts neben ihr saß, was keineswegs ein Zufall war. Denn ER, so nannte sie IHN, ER saß schon da, als sie um kurz nach zehn den Hörsaal R3 betrat. Obwohl noch viele Plätze frei waren, hatte sie sich für diesen Platz direkt neben IHM ent-schieden. Aber warum war sie heute erst kurz nach zehn in die Uni gekommen?
Nun, die römische Rechtsgeschichte hatte heute ohne sie auskommen müssen, was aber mehr als gerecht war. Denn schließlich war sie in der letzten Woche auch der deutschen Rechtsgeschichte ferngeblieben. Insoweit hatte sie ein ausgeprägtes Gerechtigkeitsgefühl: Keine dieser beiden so genannten „Mitternachtsveranstaltungen“, die um 8.00 c.t., was, wie Marie im ersten Semester schon nach einer Woche herausgefunden hatte, so viel bedeutete wie „Viertel nach acht“, begannen, sollte bevorzugt werden.
Deshalb hatte sie sich um sieben nochmal kurz umgedreht und erst um neun Uhr das Bett verlassen. Ein wenig Wasser ins Gesicht, schnell angezogen, eine Scheibe Brot auf die Hand und los ging es mit dem Fahrrad den kurzen Weg zur Universität.
Nun saß sie neben IHM, der ihr besonders in den letzten Wochen immer wieder aufgefallen war. Das war nicht verwunderlich, denn ER unterschied sich schon vom Äußeren deutlich von den ganzen grauen Anzugträgern, die die Vorlesungen besuchten. Ihr Interesse an IHM wurde von IHM aber offensichtlich nicht erwidert.
IHN schien ihre Anwesenheit nicht zu interessieren, weil ER, ohne sich etwas anmerken zu lassen, weiter in seiner offenbar linken Hetzzeitschrift las, die eindeutig ein Werk des Teufels war, obwohl dessen politischer Stern im Mai 1961 noch gar nicht aufgegangen war.
Das „Linke“ ergab sich aus dem Wenigen, das sie mitlesen konnte. Da war von gesellschaftlichen Verhältnissen die Rede, die geändert werden müssten. Von einer Befreiung der Volksmassen, einer Knechtschaft durch das Großkapital und einer kapitalistischen Hetzpresse. Und das Privateigentum gehörte abgeschafft. Das war aus ihrer Sicht immerhin ein Vorteil, denn dann müsste sie nicht mehr so viel Sachen-recht büffeln.
Diese politischen Forderungen waren ihr aber fremd, sehr fremd sogar. So etwas kannte sie aus Malve nicht. Und um ehrlich zu sein: Sie verstand auch nicht, worum es ging.
Auf ihr scheues „Interessant?“ mit Blick auf das Pamphlet kam die Antwort, die Analyse weise erhebliche Schwachpunkte auf, gehe aber durchaus in die richtige Richtung, al-lerdings könne dies erst der Anfang sein. Eine weitere Nachfrage ihrerseits unterblieb, weil die Vorlesung inzwischen begonnen hatte.
Aber auch diese traurigen 90 Minuten gingen vorbei. Dummerweise erklärte ER auf ihre scheue Frage nach dem Besuch der Mensa, ER habe heute leider keine Zeit. Aber vielleicht könne man ja morgen nach der Vorlesung zusammen dorthin gehen. Damit entfernte ER sich.
Marie war enttäuscht, zugleich aber sehr zufrieden: Sie hatte noch nichts erreicht, aber der Boden war bestellt. In den nächsten Tagen würde sie mit IHM das Erntedankfest feiern.