24. Februar 2017 - aktuelle Autorin - Laura Sheila Jünemann

Blick zurück
Laura Sheila Jünemann

Ich bin nicht da, Papa.
Papa, komm schnell her! Ich bin nicht da, guck doch in den Spiegel!
Da kommt der Hosentaschengrinsevater und sieht die runden Gucker vor der Scheibe stehen.
Strubbeliges Haar wird zerstrubbelt, und wenn es nicht braun wäre, würde sich der Dreck darin bestimmt ausgeladen fühlen. Aber der Kleine hat eben so einen freundlichen Kopf.
Seine Augen bemerken das gar nicht.
Na, was ist denn? Wo bist du denn nicht da?, fragt Papa so aufmerksam, wie man es bei so großen Kulleräuglein fragen muss.
Überall bin ich nicht da, im ganzen Spiegel bin ich weg!
Tatsächlich!
Aber Kleiner, weißte was? Wenn der Spiegel dich wiedersehen will, dann bist du bestimmt auch wieder da. Manchmal ... da braucht er einfach einen Perspektivwechsel, ein bisschen Klarheit, ein bisschen Alleinheit.
Alleinheit?
Ja.
Hosentaschen verkriechen sich.
Weißt du, sagt Vater langsam, wie würdest du dich fühlen, wenn du immer nur alle anderen zeigtest?
Weiß nicht, Papa.
Na, was glaubst du denn, was ist der größte Traum des Spiegels?
Vielleicht ... dass man ihn sieht?
Mehr. Viel mehr: Eine Scheibe zu sein. So wie jetzt. Der Vater starrt ins Glas.
Ja, eine ganz gewöhnliche Scheibe.
Ein paar (still) unsichtbare Minuten stehen die beiden da und gucken dem Durchgucken zu.
Aber weißt du was?, sagt der Vater irgendwann, dieser Spiegel ist feige!
Doch der Junge hört ihm gar nicht mehr zu.
Ich kann jetzt sogar meinen Bolzplatz von hier aus sehen, ruft er aufgeregt, guck mal, da hinten!
Da entkrampfen sich die Taschen mit einem Mal und sehen erstaunt zu dem Kleinen hoch.
Ja, tatsächlich ..., so hab ich das noch nie gesehen.
Und langsam, ganz langsam wandern seine Augen, nach so langer Zeit, zu sich zurück.
 

 

Laura Sheila Jünemann besucht das Gymnasium Antonianum, Mitglied der dortigen Schreibwerkstatt. Mitverfasserin des Buches 'lichtgeschnitten'