Anna Skorobogatova - Wir krochen aus den nassen Schlafsäcken (Kinder und Jugendliche melden sich zu Wort am 24.10.)

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Wir krochen aus den nassen Schlafsäcken

Auf den steilen Hängen lagen lange blasse Ne-belstreifen, die Gipfel versteckten sich noch hin-ter den Wolken, und der Fluss unten donnerte, gestärkt vom nächtlichen Gewitter. Wir krochen aus den nassen Schlafsäcken und freuten uns über die ersten Sonnenstrahlen. Die Nacht war endlich vorbei, es war der Anfang einer Alpen-wanderung. Jeder Schritt versprach mir, etwas Neues zu bringen. Wie auch sonst im Leben, denn es ist ja auch eine Wanderung.
Wie wertvoll zufällige Bekanntschaften werden können, kann man nur vermuten. Ich weiß nicht, ob die Menschen, die ich jetzt als Freunde bezeichnen kann, verstehen, wie wichtig es für mich damals war, von ihnen als „Kollege“ und „Mitspieler“ betrachtet, weder neutral, noch be-tont rücksichtsvoll behandelt zu werden, und ob sie eine Vorstellung davon hatten, wie sehr ich ihr Vertrauen rechtfertigen wollte. Ich verbrach-te sehr anspruchsvolle, aber unvergessliche Ta-ge in einem Ferienlager in Bayern, wo ich nicht nur Erfahrungen sammelte, sondern auch die Schönheit der deutschen Natur kennen lernte.
Damals wurde mir klar, dass der Stress der ers-ten Monate in Deutschland vorbei war. Für jeden ist die erste Zeit im Ausland unruhig, egal, in welchem Alter man ist. Das ist normal: Ein Um-zug in ein Land, das Tausende Kilometer von der Heimat entfernt liegt, kann nicht unbemerkt an einem vorbeigehen. Umso glücklicher ist man, wenn man mit der eigenen Seele sagen kann: Ich fühle mich da wohl.
Dieses Land ist freundlich zu mir. Ich habe in ihm Freunde gefunden und Dinge erlebt, die ich so schnell nicht vergessen werde. Schließlich habe ich von ihm aus auch einige andere Länder Europas besucht. Ist das nicht genug?
So schön war aber nicht alles. Ich war wirklich gekränkt, als ich einmal in der Schule in Rus-sisch nur eine Zwei bekommen habe. Es ist ü-berflüssig zu sagen, dass ich in dieser Sprache, meiner Muttersprache, sehr gut bin und auch früher darin immer die beste Note gehabt habe. Meine Kenntnisse der Sprache und der Literatur sollten damals dem Niveau einer Klausur ange-passt werden. Als ob man von einem ganzen Eisberg nur den Teil sehen wollte, der über Was-ser lag! Bedeutet das, dass manche uns zeigen wollen, wie wenig wert wir sind? Hoffentlich nicht!
Glücklicherweise habe ich eine andere Möglich-keit gefunden, an die Universität zu gelangen, und habe sie genutzt. Dabei habe ich auch an-dere Ausländer kennen gelernt, die den Traum haben, in Deutschland Medizin zu studieren. Man versteht seine Lage viel besser, wenn man andere kennt, die in einer ähnlichen sind. Trotz der vielen Prüfungen ist dieser Weg bisher ein guter gewesen. Unsere deutschen Lehrer brin-gen uns nicht nur Naturwissenschaften, sondern auch Toleranz, Offenheit und Optimismus bei. Für mich ist das alles sehr interessant.
Die Zeit vergeht. Wir werden älter und lernen, die zwei Kulturen, die wir in uns tragen, nicht gegenüber, sondern nebeneinander zu stellen. Alles ist möglich, wenn man daran glaubt. Für meinen Lebensweg besonders wichtig sind die folgenden Worte: Wo kämen wir hin, wenn alle sagten: „Wo kämen wir hin?“, und niemand gin-ge, um zu schauen, wohin man käme, wenn man ginge? Alles Gute!

Anna Skorobogatova (19 Jahre)

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