Christina Giese - Gegensätze ziehen sich an (Jugendliche melden sich zu Wort am 25. Dezember)

Hördatei: 

Gegensätze ziehen sich an

Ich wohne seit meiner Geburt in der Stadt Es-sen. Alle meine Verwandten sind aus Deutsch-land. Meine beiden besten Freundinnen wurden auch in Deutschland geboren. Allerdings kom-men ihre Verwandten nicht aus Europa, sie kommen aus Asien. Eine der beiden heißt Pu-rathani, sie ist tamilischer Abstammung. Die andere heißt Rashmi und hat indische Wurzeln.
Für mich ist es selbstverständlich, Neues ken-nen zu lernen. Es ist normal, sich wenigstens ab und zu mit seinen Freunden zu treffen. Mit meinen Freundinnen kann dieses Treffen aber zu einem riesigen Problem werden. Erstens ha-ben die beiden kaum Zeit, da sie beispielsweise noch in die tamilische Schule oder zum Ge-sangs- oder Musikunterricht müssen. Oder aber es findet mal wieder eine der vielen Hochzeiten in dieser Riesenfamilie statt. Gehen wir dann mal shoppen, haben wir sehr unterschiedliche Vorstellungen von Mode etc.. Kommt eine der beiden einmal zu Besuch, kann man nur be-stimmte Dinge kochen, da ihre Religion ihnen vieles verbietet. Zum Beispiel dürfen sie kein Rind essen. So kann man noch nicht einmal Spaghetti Bolognese machen. Aber etwas lie-ben wir alle: Thunfischpizza.
Einmal wurden meine Mutter und ich zu einem tamilischen Fest eingeladen. Wir wurden herz-lich empfangen, und uns wurden sogar Plätze in der ersten Reihe angeboten. Uns war alles jedoch so fremd, dass wir uns ziemlich nach hinten verkrümelt haben. Wir waren die einzi-gen Deutschen, und es kam uns so vor, als ob wir in einem anderen Land wären. Erstens wussten wir nicht, wie wir uns verhalten soll-ten, zweitens waren wir ganz anders gekleidet, und drittens fiel durch unseren sehr blassen Teint auch noch auf, dass wir woanders her-kamen.
Als uns dann eine sensationelle Show mit tami-lischen Tänzen, der Hymne usw. geboten wur-de, bot uns der Vater meiner Freundin etwas zu essen und zu trinken an. Wir konnten natür-lich nicht Nein sagen, und so kam er kurze Zeit später mit zwei vollgeladenen Tellern und zwei Cola-Dosen wieder. Meine Mutter fragte erst einmal völlig verdutzt nach Besteck, doch der Vater sagte, dass es normal in ihrem Land sei, mit den Fingern zu essen. Also aßen wir auch mit den Fingern. Es war schon eine Überwin-dung, dies zu tun, da man es in Deutschland als Unsitte ansieht. Außerdem war das Essen für uns etwas ganz Neues. Der Geschmack war ganz anders, als wir es gewohnt waren. Und die vielen unbekannten Gewürze machten das Essen unglaublich scharf, so dass wir die uns bekannte Cola komplett leerten.
Nach diesem außergewöhnlichen Tag konnten sich meine Mutter und ich zum ersten Mal vor-stellen, wie man sich wohl als Ausländer fühlen musste.
Mein Traum ist es, einmal nach Indien oder nach Sri Lanka zu fliegen, um das Verhalten und die Lebensweise meiner Freundinnen bes-ser nachvollziehen zu können.
Ich glaube, dass wir so gut befreundet sind, weil wir so unterschiedlich sind. Denn Gegen-sätze ziehen sich bekanntlich an.

Christina Giese ( 15 Jahre )

Buch: