Dieter Wöhrle - Ein Tag in Rainers Leben
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Dieter Wöhrle
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Ein Tag in Rainers Leben
Rainer bestellte sich noch einen. Beim Trinken war ihm, als transportierte jeder Schluck sein Glück in Richtung Gehirn, ließ es sich dort ausbreiten und wirken. Und er wollte es teilen, sein Glück. Eine Lage bestellen für alle, die am Tresen saßen, ob sie ihn nun kannten oder nicht. Einige prosteten ihm freundlich zu, andere schienen etwas verwirrt, als plötzlich ein neues volles Glas vor ihnen stand. Rainer genoss es und lächelte in sich hinein. 1,5 Millionen. Ausgerechnet ihm, der nur selten und stets ohne System Lotto spielte. Ein Märchen, das zu glauben ihm selbst schwerfiel. Die Rechnung für diesen Abend zu begleichen würde ein Vergnügen werden, so viel war klar. Er ließ sich noch einmal einschenken. Glück. Glücklicher ging nicht. Mit Sicherheit der glücklichste Tag in seinem Leben.
Sein Leben. Er dachte zurück an die letzten Jahre. An die Kredite, die er aufgenommen hatte, weil ihm die monatlichen Ausgaben immer mehr über den Kopf gewachsen waren und schon lange in keinem Verhältnis mehr zu seinen Einnahmen gestanden hatten. Dachte an seinen Job als Kraftfahrer und die zahlreichen Schwarzarbeiten, mit denen er zu überleben versucht hatte. An die immer wieder aufkeimende Hoffnung, bald das Schlimmste überstanden zu haben, wenn er sich nur noch weiter einschränkte. Dachte an Maria, die ihm erklärt hatte, dass sie zu weiterem Verzicht nicht bereit sei, sondern endlich wieder leben wolle. Ihm mit Trennung gedroht hatte. Dachte daran, wie sinnlos er sein ganzes Leben gefunden hatte.
Und nun war Schluss mit der Misere, Schluss mit einem Schlag. Rainer versuchte, sich Marias Gesicht vorzustellen, wenn sie erfuhr, wie reich er seit heute war. Die Vorstellung war angenehm genug, um sich noch einen zu gönnen. Am liebsten wäre er für immer hier geblieben, hätte er nie aufgehört, Pils und Kurze in sich hinein zu kippen. Andererseits wusste er, dass er nun so langsam ein Ende finden musste. Schließlich hatte er morgen viel vor, musste er die ersten Schritte in seinem neuen Leben planen.
Er stieg in seinen alten Golf und startete. Einen kurzen Augenblick dachte er daran, dass dies nicht ungefährlich war. Verkehrskontrollen gab es schließlich überall und immer häufiger. Doch dann verwarf er diesen Gedanken wieder. Verkehrskontrollen am glücklichsten Tag seines Lebens? Passte nun wirklich nicht zusammen.
Als Rainer wieder zu sich kam, spürte er nur wenig. Er geriet auch nicht in Panik, als er die Schläuche zwischen sich und den Apparaten neben seinem Bett sah. Er hatte das Gefühl, als sei sein Kopf mit Watte gefüllt. Kein Zweifel, dies war ein Krankenhaus. Rainer hatte jedoch keine Ahnung, wie und warum er hergekommen war. Keine Erinnerung, nichts.
Kurze Zeit später wurde die Tür geöffnet. Ein Arzt und zwei Polizisten in Uniform betraten den Raum, erkundigten sich nach seinem Befinden. Ein Beamter stellte einen Stuhl neben das Bett, nahm Platz. Er wirkte ernst, jedoch nicht unfreundlich, als er erzählte, was passiert war. Rainer konnte nicht glauben, dass das, was er da hörte, irgendetwas mit ihm zu tun hatte. Er sei, stark alkoholisiert, mit überhöhter Geschwindigkeit auf die Gegenfahrbahn geraten und dort ungebremst in einen Mercedes geknallt. Dessen Fahrer und seine Beifahrerin seien tot, ein dreijähriges Kind, das sich auf dem Rücksitz befunden hatte, liege auf der Intensivstation, Ausgang offen. Die Schuldfrage sei eindeutig geklärt. Auf Rainer werde nun so Einiges zukommen, darüber müsse er sich im Klaren sein. Mit Sicherheit sei er seinen Führerschein und damit seine Arbeit als Kraftfahrer los. Dazu Straf- und Zivilprozesse, hohe Schmerzensgeld- und Schadenersatzforderungen, jede Menge Ärger mit Versicherungen.
Nachdem die Besucher ihm gute Genesung gewünscht und den Raum verlassen hatten, stellten sich langsam erste Schmerzen ein. Erst in der linken Schulter, dann im ganzen Arm. Wie nach Schlägen mit einem stumpfen Gegenstand. Noch immer konnte Rainer nicht glauben, dass der Polizist von ihm gesprochen und nicht die Geschichte eines Bekannten erzählt hatte.
Job weg, Geld auch. Straf- und Zivilverfahren. Schmerzensgeld, Schadenersatz. Versicherungen, die sich querstellten. Ein dreijähriges Kind, lebensgefährlich verletzt und nun wahrscheinlich Vollwaise. Denn vermutlich handelte es sich bei den zwei toten Erwachsenen um die Eltern.
Rainer war zu keiner Empfindung fähig. Doch bevor er einschlief, überflog er noch einmal den Tag in seiner Gesamtheit. Einen traurigen Tag. Trauriger ging nicht. Mit Sicherheit den traurigsten Tag in seinem Leben.
Berlin, 3.4.2015