Jürgen Meier: Die Kunst und der Konsul (Hörausschnitt 1. Kapitel)

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1. Kapitel

„Ich möchte euch darauf hinweisen, dass ich in dieser schwierigen Entscheidung, die unsere Partei für den Landkreis zu treffen hat, auf jeden Einzelnen von euch zähle. Wir stimmen als Fraktion ab! Ist das klar? Als Fraktion!“ Der Fraktionsvorsitzende der Mehrheitspartei schlug mit der Kraft seines durchtrainierten, wenn auch etwas ältlich und kränklich gewordenen, gedrungenen Körpers, im Sitzungszimmer der Fraktion, in dem alle Abgeordneten der Partei anwesend waren, mit der flachen Hand auf den Tisch, so, als wolle er ein Insekt liquidieren, das zum Sprung ansetzt, um seinen Saugrüssel in seine, vom Solarium gebräunte Haut zu bohren. Seine Augen bekamen langsam wieder den Glanz, durch den das noch immer jugendlich wirkende Gesicht des Fraktionsvorsitzenden stets wie ein Foto in einem Magazin wirkte, das für eine Gesichtscreme faltenfreie Frische demonstrieren will. Er hatte während seiner Ansprache immer sie in seinem Blickfeld gehabt, die ihn nun mit ihren großen hellblauen Augen anstrahlte, so als wolle sie ihm huldigen. Doch er kannte sie. „Gleich wird sie ihren unprofessionellen Protest anstimmen,“ flüsterte er, in das ihm fast liebevoll zugewandte Gesicht seines Parteifreundes, der noch immer herzhaft applaudierte und von dem er wusste, dass es sich bei diesem Parteifreund um einen Vollprofi handelte, sonst wäre er nicht schon wieder in den Bundestag gewählt worden. Diesem Parteifreund zu liebe legte der Fraktionsvorsitzende die Sitzungen der Landkreisfraktion stets so, dass der Profi aus Berlin sie bequem vor Beginn seines Wochenendes, das er mit seiner Frau Edeltraut und dem Wellensittich Robert im gemütlichen Heim verbrachte, erreichen konnte. „Bleib ruhig!“, tuschelte der Berlinprofi, „lass sie labern! Sie kann sich ohnehin nicht durchsetzen. Wir hätten sie allerdings nie in unsere Partei aufnehmen dürfen.“ Der Fraktionsvorsitzende, der seinerzeit sehr glücklich da¬rüber gewesen war, dass sie von der anderen, der christlich sich nennenden Parteifraktion, zu ihnen über¬gewechselt war, nickte zustimmend mit seinem glatt¬rasierten und, im dezenten schwarz getönten, sorg¬fältig gescheitelten Kopf.
Der Applaus, den alle, mit Ausnahme der Partei¬wechslerin, dem Fraktionsvorsitzenden spendeten, war in dumpfe und freundlich gestimmte Gespräche mit den jeweiligen Nachbarn übergegangen, sodass niemand – außer der Fraktionsvorsitzende und der Berliner Profi – bemerkte, dass die Parteiwechslerin mit ihrem rechten Arm eine gewünschte Wortmeldung ankündigte.
„Was gibt es denn Martina,“ wollte der Fraktions¬vor¬sitzende von ihr wissen. Leicht genervt, sorgte er im Raum natürlich nicht für die notwendige Ruhe, in der erst eine Diskussion zum Thema sich hätte entfalten können.
„Ich möchte etwas zu deinen Ausführungen in Sachen Umwelt und Stadttheater machen.“
„Muss das sein, wir liegen endlich einmal gut in der Zeit, alle möchten in das wohlverdiente Wochenende.“ Die Einzelgespräche verstummten, deren Akteure statt¬dessen mit ihren Fingerknöcheln die polierten Tisch¬platten beklopften. Dabei stießen sie kehlige Quarkge¬räusche aus ihren verschlossenen Mündern. Doch die Abgeordnete Martina Broslack schob ihr Kinn weit nach vorn und blickte mit ihren funkelnden Augen fröhlich lächelnd in jedes Gesicht der Fraktionsmitglieder, die sich, an den hufeisenförmig aufgestellten Tischen hockend, gegenseitig in ihrer Ablehnung gegen diese eine Quertreiberin durch Handzeichen und Gestöhne unterstützten. Ihre lockige Haarpracht schenkte ihr eine Jugendlichkeit, die viele ihre Gegner milder gegen sie stimmte, obgleich ihre Verstöße gegen die Partei¬disziplin, wie ihre ständige Kritik und eigensinnige Mei¬nungsäußerung genannt wurde, von allen Fraktions¬kollegen ohne Ausnahme energisch verurteilt wurden. ‚Jugend verzeiht man die Tugend und Schwärmerei, die in der Realpolitik nichts verloren hat. Eigentlich hätte sie allerdings schon längst ausgeschlossen werden müssen’, gab der Berlinprofi beim Bier in der Stamm¬kneipe regelmäßig zum Besten. Er müsse nach diesen Sitzungen mit diesen Provinzheinis aus seiner Partei, denen das hohe Niveau der Berliner Kollegen leider noch immer fehle, erst ein Bierchen zischen, hatte er seiner Edeltraut einmal verraten, um so richtig gemütlich daheim ankommen zu können. Der Ärger der Woche und dann diese Stimmung der öden Sitzungen mit diesen spießigen Abgeordneten des Kreistags, müsse erst weggespült werden, dann sei Zeit für sie, seine angetraute Edeltraut, und für Robert, den Wellensittich, der, was in Berlin alle Fraktionskollegen großartig fanden, die erste Zeile der deutschen Nationalhymne trällern konnte. Martina Broslack nahm auf seine stressi¬ge Woche aber auch an diesem Nachmittag keine Rücksicht. Sie hob noch immer ihren Arm.
„Ist es denn wirklich so dringlich, dass du deinen Protest, den wir doch bereits alle zu genüge kennen, erneut verbreiten musst? Es ist Freitag, wir brauchen Ruhe und etwas Erholung. Alle!“
„Wie kannst du mit deinem Gewissen überhaupt einen Tag Ruhe finden?“, gab Martina Broslack, immer noch sehr freundlich, zur Antwort. „Ich werde meinen Protest erst dann beenden, wenn ihr eure unmenschlichen und naturfeindlichen Meinungen ändert und endlich einmal das tut, was die Wirklichkeit von uns allen verlangt.“
„Die Wirklichkeit!“ prusteten einige Lacher. „Was weißt du schon von der Wirklichkeit!“

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