Jana Ruder - Flias (Jugendliche melden sich zu Wort am 22. September 2010)

Hördatei: 

FLIAS
Jana Ruder

„Hey Schatz, wo warst du denn?“
„Keine Ahnung! Der Postbote fand mich heute Morgen schlafend hinter der
Mülltonne!“ Melanie sah sich ihren Flias von Schuh bis Krawatte an und
entschied sich dafür, seinen Anzug wegzuwerfen, da von ihm ein
unangenehmer Duft zu entweichen versuchte.
„Schatz, du weißt hoffentlich, dass wir heute auf eine Hochzeit müssen.
Gott sei gedankt, dass deine Mutter mir deinen besten Smoking
anvertraute, da ich sonst nicht wüsste, wie wir dich bis zu der Trau¬ung
wieder attraktiv machen könnten.“ Melanie legte sich aufs Bett und
schlug sich die Hände vors Gesicht.
„Schätzchen, mein kleiner Schnuckie. Ich wäre ohne dich verloren!“
„Ohne den Postboten wärst du sogar schon früher in der Gosse gelandet,
und ohne deine Mutter wärst du wahrscheinlich nackt auf der Hochzeit
erschienen. Ach herrje! Die Hochzeit!“ Die Ehefrau stand plötzlich auf,
schob ihren Mann vor den Kleiderschrank und holte eine Aspirintablette
aus ihrem Kleid. „Hier, nimm das und werde wieder vernünftig. Ich
möchte keinen Affen neben mir auf dem Hochzeitsfoto sehen! Meine
Freundin würde mir das abgelichtete Malheur ständig aufs Handy senden!“
Sie steckte ihm die Tablette in den Mund und ging ins Badezimmer. Flias
Fastenstock, so war sein voller Name, konnte nur mit viel Mühe die
Pille herunterwürgen.
Nachdem beide Partner losgehbereit waren, ging es noch um ein wichtiges
Thema: „Wer heiratet überhaupt?“
Flias fragte sich dies schon die ganze Woche. Vermutlich löschte der
Alkohol andauernd seine Erinnerungsfetzen. „Hast nicht du die Einladung
aus dem Briefkasten geholt?“ Flias schaute seine Frau an, die schon im
Wagen saß.
„Schatz, du weißt doch, dass du sie mir zeigtest und dann in den Kamin
warfst. Ich konnte gerade noch ‚Einladung zur Hochzeit’ entziffern!“
Die Fastenstocks saßen schließlich total verdutzt im Auto, komplett
angezogen, geschminkt und bereit, sich die Birne auf der Hochzeit
anzuheizen.
„Warte mal, Melanie! Ich glaube, der Peter von nebenan heiratet heute.“
Melanie blickte zu dem mit Zelten und Buffettischen zugestellten
Nachbarsgarten.
„Ach ja! Peter hatte mich gestern angerufen, aber da du wieder einmal
nicht zu Hause warst, war ich eher damit beschäftigt, dich ausfindig zu
machen, als mir das Telefonat zu merken!“
Der entfachte Streit im Auto nahm seinen Lauf und die Hochzeitsgäste
erfreuten sich an dem amüsanten Spektakel. Ein Geschenk, welches sich
das Hochzeitspaar nie erträumt hätte.

Buch: