Ruža Kanitz : Polenta oder Milchkaffee (eine Leseprobe)

Hördatei: 

Das Ende all unserer Erforschungen wird darin beste¬hen, dort anzukommen, wo wir gestartet sind, und diesen Ort zum ersten Mal zu erkennen.
T. S. Eliot

Die jährlich wiederkehrende Sehnsucht nach der Familie und den Bergen war groß. Die nach dem kleinen rot¬haarigen Mädchen und den Tränen, die es vergossen hatte, auch. Es war wichtig, es zu loben und der Kleinen zu sagen, dass nichts umsonst war. Wichtig war, auf den Spuren ihrer Vergangenheit zu laufen, zu horchen, zu beobachten und zu staunen. Das Auto fuhr fast leise auf dieser sich schlängelnden, schmalen, asphaltierten Straße. Man wollte keinen wecken, keinen Fuchs, keinen Hasen, keinen Bären …
Und jedes Mal fragte man sich, lebt wirklich jemand hinter diesen Bergen? Die Luft war so klar, so frisch, so rein; man hätte sie wirklich ‚mit dem Messer schneiden’ können, wie man in dieser Gegend sagen würde. Der Buchenwald glitzerte in den letzten Sonnenstrahlen des Tages. Und wenn man nicht genau wüsste, wo man gerade ist, man könnte glatt denken, man wäre in einem Märchenwald gelandet.
Die Fenster wurden heruntergedreht, die Luft wurde tief eingeatmet. Jeder Atemzug war verbunden mit Erinne¬rungen. Es überfiel einen eine leichte Übelkeit, der Magen zog sich zusammen, aber die Vorfreude war groß. Schon lange kannte ich nicht mehr die Namen der Bewohner in den Häusern mit den roten Dächern hinter den aneinandergereihten Pflaumenbäumen, die an der Straße standen. Alles sah so aus wie immer, so nah und doch so weit entfernt. Die vorbeikommenden Menschen wurden nicht erkannt oder es wurde geraten, wer das sein könnte. Von den jungen Leuten kannte man nur noch wenige.
Die Spitze des Kirchenturms zeichnete sich ab, wir fuhren den Berg hinunter. Trotz Müdigkeit wurde alles genau betrachtet, aufgesogen. Auf der rechten Seite ein längliches Gebäude, die Schule. Acht Jahre hatte ich dort verbracht. Unzählige Prügeleien mit Mare, Schläge von den Lehrern wegen Kleinigkeiten, viele Vormittage ohne Frühstück, eingemummelt in diese dunkle Kutta mit viel zu großen, weißen Knöpfen. Für kurze Zeit beschlich mich Traurigkeit.
Maricas Haus lag auf der linken Seite. Wir fuhren aber jetzt noch nicht zu ihr, es war noch genügend Zeit. Ein Stück weiter der Friedhof, den man am Ende des Urlaubs in Gedanken besuchen würde. Und die Erinnerungen prasselten auf einen ein, dass man sich nicht von ihnen befreien konnte. Man musste hineinspringen, wenigstens für kurze Zeit … Vater, Mare, Maka und so viele andere. Ich sah Mare als junges Mädchen von 15 Jahren, aufgeblüht und frühreif und schon verheiratet.
Der erste Mann hatte sich aufgehängt und der zweite war krank geworden. Die einzelnen Haare, die wir uns he¬rauszupften und zwischen den Fingernägeln festzogen, um zu sehen, ob sich die Haare kringelten – wer eines Tages in der Stadt wohnen und eine feine Stadtdame werden würde. Maka mit seinen großen Gänseeiern lebte jetzt mit Frau und Kindern in der Hauptstadt. Vater hatte ich schon lange nicht mehr auf dem Friedhof besucht. Ich schaute flüchtig auf die Gräber und wandte mein Gesicht schnell zur Seite. Da war ein Anflug von schlechtem Gewissen. Aber war das nicht ein gutes Zeichen, dass wir uns endlich vertrugen? Dieses Jahr musste ich es tun. Ich würde Vaters Grab besuchen, ihm Blumen bringen und wir würden lange, sehr lange reden.

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