Saskia-Fabienne Guerriero - Ich bin nicht allein (Kinder und Jugendliche melden sich zu Wort)

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Ich bin nicht allein

So, ich möchte mich erst mal vorstellen: Mein Name ist Marianne, und ich bin achtzig Jahre alt. Ich habe am heutigen Tag viel nachgedacht, denn eigentlich habe ich schon viel mitmachen müssen. Ich habe nämlich als Kind nie ein richtiges Zuhause gehabt. Aber um das zu verstehen, muss ich euch erst mal meinen Lebensweg schildern. Ich wurde in einem kleinen Dorf geboren, dort lebten mal gerade 350 Einwohner. Zwei Jahre später schon zogen wir nach Italien um. Dort nahm mein Vater einen Job an. Es lief anfangs recht gut, doch nach drei Jahren machte die Firma pleite, und alle Angestellten wurden arbeitslos, darunter auch mein Vater. Da wir bald unsere Miete nicht mehr bezahlen konnten, zogen wir wieder um. Meine Großeltern nahmen uns in Spanien liebevoll auf. Ich ging dort mit sechs Jahren zur Schule und lernte so die spanische Sprache zu sprechen und zu schreiben. Ich hatte dort viele neue Freunde, und deshalb war es schwer, mich von ihnen zu trennen. Denn eines Tages, als ich aus der Schule nach Hause kam, teilten mir meine Eltern mit, dass mein Großvater an einem Herzinfarkt gestorben war. Da war ich ganz schön erschrocken. Ich war mittlerweile zehn, und wieder musste ich mich von meinen Freunden verabschieden und das Land verlassen, diesmal zu viert. Wir nahmen meine Großmutter mit, da sie nicht mehr alleine in ihrem Haus dort leben wollte und konnte.
Nach der Beerdigung zogen wir nach Deutschland. In Köln suchten wir uns eine Wohnung, die groß genug für uns alle war. Wenige Tage später fanden meine Eltern wieder einen Job. Ich durfte auch wieder zur Schule gehen und ich freundete mich mit einigen Kindern an. Trotzdem weinte ich oft, weil ich meine alten Freunde vermisste. Doch sobald ich mit meinen neuen Freunden zusammen war, vergaß ich diesen Schmerz. Mit sechzehn Jahren machte ich meinen Abschluss an einer Realschule, danach ging ich in die Oberstufe, um mich auf das Abitur vorzubereiten. Nach dem Abitur musste ich leider nach Berlin, um an der Universität zu studieren. Also zog ich in die Nähe der Universität und wohnte dort in einer kleinen Wohnung.
Eines Tages bekam ich einen Anruf. Meine Eltern erzählten mir, dass nun auch meine Großmutter gestorben war. Ich beschloss, mein Studium abzubrechen, und fuhr nach Köln zurück. Nach der Beerdigung blieb ich noch einige Tage dort, doch fuhr ich danach doch noch einmal nach Berlin, um mein Studium abzuschließen. Auf einem Spaziergang traf ich einen Mann, meinen Traummann. Ja, wir kamen zusammen und suchten uns eine größere Wohnung.
Nachdem wir uns selbstständig gemacht hatten, kauften wir uns ein Haus in Essen. Obwohl ich es eigentlich satt hatte, immer von einem Ort zum nächsten zu ziehen, tat ich es trotzdem. Wir heirateten in der Alten Kirche in Essen-Kray, und unsere Flitterwochen verbrachten wir in Frankreich.
Zu Hause angekommen, vergingen die Jahre wie im Flug, und wir wurden älter. So gingen wir nach all den Jahren in Rente und taten eine Menge, um fit zu bleiben. Jetzt ist mein Mann schon zwei Jahre tot, er starb wie mein Großvater an einem Herzinfarkt. Wir haben keine Kinder, da wir zu wenig Zeit hatten, um uns um sie zu kümmern. Wir waren trotzdem glücklich, und ich weiß, dass die Zeit mit ihm die schönste Zeit in meinem Leben war. Ich habe auch nicht mehr lange zu leben, und ich habe, wie gesagt, über vieles nachgedacht. Ich stelle mir vor, wie viele Menschen genau jetzt lachen und wie viele sich über andere Menschen Sorgen machen. Wie viele sterben jetzt und wie viele werden geboren? Wie vielen geht es gut und wie viele sind verloren? Wie viele lieben sich in diesem Augenblick und wie viele sind vor Liebe blind und schon verrückt? Wie viele denken, sie seien niemand Bestimmtes und wie viele sind enttäuscht, dass sie niemanden für sich finden? Doch ich weiß: Ich bin nicht allein, wenn ich daran denke. Ich bin nicht allein, wenn ich darüber spreche. Ich bin nicht allein auf dieser großen weiten Welt. Ich bin nicht allein, auch wenn du meinst, ich sei es.
Aber wie lange wird es dauern, bis ich auf meine Fragen Antworten sehe? Ich frage so lange, bis ich alles verstehe! Also, was ich euch damit klar machen will, ist, dass es nicht immer leicht ist im Leben. Aber man schafft es, wenn man an sich glaubt. Denn ihr seid nicht allein!

Saskia-Fabienne Guerriero ( 14 Jahre )

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