Tale Inger Ulbrich - Erklimmen (Jugendliche melden sich zu Wort am 28. Mai 2011)
Hördatei:
Erklimmen
Tale Inger Ulbrich
Das dunkel einfallende Licht erschwert ihre Blickweite. Es erfordert die mechanisierten Bewegungen, die ihr einerseits schwerfallen, die sie anderseits nachahmt, die sie nicht beherrscht. Sie ist nicht der Mensch, der aufgibt, und zu stolz, um zu begreifen, dass sie allein nie an dem einen Ziel, ihr vor Augen, ankommen wird. Sie stolpert, fällt, erhebt sich, rennt, stolpert und fällt. Sie steht auf, unwissend, wo sie ist, ob sie angekom-men ist, welche Entfernung ihr bleibt, auch welche Zeit tickt. Ihr Knöchel ist angeschwollen. Ein verdrehtes Glied gefährdet ihr Gleichgewicht, nur schleppend können ihre Beine das Balancieren tragen. Hilflos rennt sie, und wieder stürzt sie zu Boden. Stolz war sie auf das, was sie schaffen konnte, dass sie sich beweisen konnte, ohne Zuneigung. Hilflos muss ihr Körper mit dem Dreck verschmelzen, den andere verursachen. Eine erste Plattform hat sie nun zwar stolpernd er-reicht, doch Meilensteine drängen sich wie Türme vor ihren großen Augen. Ihr Knöchel schmerzt. Ihr Ver¬stand verblendet, übertönt von instinktivem Körper-gefühl. Sie räkelt sich auf. Stützend verfolgt sie nun mit der starren Hand das kalte, runde Geländer. Ge-führt erreicht sie die nächste Stufe. Neuer Mut spru-delt, sie rennt, stolpert, fällt nicht, rennt, fällt doch. Liegend nimmt sie die vielen anderen Knöchel wahr, die an ihr vorbeischweifen, andere stolzieren. Es sind die Massen, die einen Fuß vor den anderen setzen kön-nen. Ihr Herzblut pocht. Sie kann die Arbeit der Herzen derjenigen, die über sie gehen, nicht hören, nicht füh-len. Kein Zeichen von Anstrengung kann je wahrge-nommen werden. Füße trampeln, treten, verschwin-den, spurlos. Die Masse rennt, sie stolpert. Die Masse läuft, sie fällt. Die Masse erreicht das Ziel, sie bleibt auf vorletzter Strecke liegen. Für sie war die Kraft hier vorbei, die anderen feierten das Ziel, stolz. Während sie liegt, bringt das Ziel die Massen bergauf. Sie rühren sich, ihr bleibt das Stolpern bergab.