Wöhrle, Dieter - Mittelmaß, mit Brille, Ende 40 (Text des Tages)

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Mittelmaß, mit Brille, Ende 40
Nichts als Ärger und Enttäuschung hat ihm die letzte Woche beschert. Aber Eric lässt sich nicht anmerken, wie sehr ihm das alles in den Knochen sitzt. Im Vorübergehen grüßt er freundlich den türkischen Betreiber des Gemüseladens und wirkt, wenn nicht gerade ausgeglichen, so doch wenigstens unauffällig. Mittelmaß, mit Brille, Ende 40.
Er fragt sich, wo das alles noch enden soll. Kein Wort der Anerkennung oder des Dankes für ihn, der wie selbstverständlich Überstunden in Kauf genommen, am Montag bis in die Nacht hinein Analysen erstellt und Kundenakquisition betrieben hat. Unbezahlt, versteht sich. Stattdessen hat er mehrfach wahrgenommen, wie hinter seinem Rücken getuschelt wurde und Unterhaltungen abrupt abbrachen, wenn er das Büro betrat.
Und überhaupt: Wo früher Fleiß noch als eine Tugend galt, geht er heute höchstens noch als Markenzeichen von Verlierern durch. Erfolg verbuchen nicht mehr die, die sich den Rücken krumm schuften, sondern die Skrupellosen und Korrupten. Statt mit „Made in Germany“ sollten sich einheimische Produktwerbungen nur noch mit „Made in Billiglohnland“ zieren, kein Wunder, dass dabei jede Qualität auf der Strecke bleibt. Wer kann denn heute noch stolz auf seine Arbeit, seine Firma sein? Früher gab es noch ansprechbare Chefs mit Launen und mit Namen, heute weiß doch längst niemand mehr, welchem Global Player der Laden gerade gehört, wo und von wem Entscheidungen getroffen werden. Und mit kompetenten Ansprechpartnern ist es auch nicht mehr weit her.
Wo er auch hinsieht, nichts als bedrohliches Chaos. Früher waren Ausländer im Straßenbild die Ausnahme, Folklore, etwas Exotisches und auf Spezialitätenlokale beschränkt. Heute sieht man hier kaum noch Deutsche, und ein Lokal mit original deutscher Küche zu finden gleicht der sprichwörtlichen Suche nach der Nadel im Heuhaufen...
Eric weiß, dass er dergleichen nicht laut sagen sollte, es wäre politisch unkorrekt. Und dabei verkommt hier alles immer mehr und niemand tut etwas dagegen.
Und dann sind sie plötzlich wieder da. Die Bilder, die ihn in solchen Stimmungen immer wieder aufhellen. Erics Bilder. Er, mit allen Eigenschaften von Super- und Batman ausgestattet, räumt auf. Verprügelt. Verletzt. Tötet. Alles und jeden, der gerade nervt. In jede blöde Fresse ein Schlag wie von einem Pferd. Genau auf die Zwölf. Krachend. Gnadenlos.
Schon fliegt dem arroganten Iraner aus dem Restaurant gegenüber eine Handgranate durchs Fenster, deren Explosion einen ohrenbetäubenden Knall verursacht  und alles, ob es einen Puls hat oder nicht, hübsch pulverisiert in die Atmosphäre schleudert. Dem übergewichtigen Langzeitarbeitslosen aus dem Nachbarhaus werden mehrmals täglich Nase, Zähne und Kieferknochen zertrümmert. Und auch die dümmlich-vorlaute Polin in ihrem Zeitungskiosk an der Ecke wird immer wieder zum Objekt von besonders effizienten Sprengsätzen, die sie fein atomisieren und in winzigste Partikel teilen.
Besonderes Vergnügen bereitet Eric die Vorstellung, dass er solche Aktionen sofort wieder rückgängig machen und dadurch beliebig oft wiederholen kann.
Er fühlt sich angenehm erwärmt, erleichtert, entspannt. Fühlt sich absolut auf der sicheren Seite. Denn nichts und niemand, keine Polizei, kein Staatsanwalt, kein Gewissen kann ihn zur Rechenschaft ziehen oder bestrafen. Schließlich hat er nicht wirklich etwas getan. Vor allem hat er keinem von seinen Bildern erzählt.
Niemand hat etwas bemerkt. Auch nicht der türkische Inhaber des Gemüseladens, der Erics freundlichen Gruß gerade erwidert hat und ihm nun nachsieht. Ihm, der, wenn nicht gerade ausgeglichen, so doch wenigstens unauffällig wirkt. Mittelmaß, mit Brille, Ende 40.

Berlin, 15.7.2014

Dieter Wöhrle
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